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Briefe an den Autor

Schreibwettbewerb zum Erscheinen von Hermann Burgers «Lokalbericht» Gewinnertext von Rudolf Ingold.

Geehrte Herren

«Lokalbericht»: Das Bild stimmt in Teilen.

«Maienzug». Die «Mahlzeitenkommission» einigt sich seit Jahren auf Kartoffelstock. Die «Wetterkommission» tagt früh. Schüsse für alternde Kanoniere vom Hungerberg: Schön- oder Schlechtwetterprogramm? Kartoffelstock bei Trockenheit oder Kartoffelsuppe. Liebesleid an diesem Jubeltag gehört dazu!

«Bachfischet». Halbherziger Anlass. Den Lehrpersonen der Volksschule kommt er gelegen. Endlich kompetenzorientiert: Wie gelingt die einleuchtendste Laterne? Eine pädagogische Frage, die in verdunkelter Stadt an die Mauern der Stammlokale politischer Entscheidungsträger prallt.

Was sich tiefgründig verändert hat, Ihnen vertraut war: Ziegelrain.

Aus der Rathausgasse kommend, nach rechts ums «Landjägerhäuschen» kurven. «Landjäger»? Ich bitte Sie! Ein Sanitätsgeschäft, das Stützartikel anbietet, nimmt die Angst vor dem rechten Winkel.

So eingestimmt, gelangen Sie in den steil abfallenden Ziegelrain, die Heilmeile der Stadt. Gesundheit – Krankheit: eine Frage, die Sie ja beschäftigt.

Wer den Rain fahrerisch schafft, schafft auch die Führerprüfung: Feinfühliges Beinspiel ist unabdingbar. Entweder das hintere Fahrzeug, die Vitrine des Goldschmiedegeschäfts oder die Seite des aus verkehrsberuhigter Zone stürmenden Busses. Gleiche Kostenfolge, andere Rechnungsstelle.

Den Ziegelrain hinunter. Ersten Gang ohne Gas, nicht auskuppeln! Mit Blick nach rechts erkennen Sie Altes. Die Fassaden stehen noch. Im Untergrund waren es Statiker, die ganze Arbeit geleistet haben. In neuen, nur über Treppen erschlossenen Räumen sprechen Kleingeschäfte jugendlich bewegliche Kundschaft an.

Inzwischen sind Sie – erster Gang, doch! – im unteren Teil des Rains und sehen unauffällige Häuserblocks, die auf Wohnungen schliessen lassen. Es sind metallgebürstete Schilder, die jedoch neue Formen von Gemeinschaften andeuten. Spezialarztpraxen beleben heute die Räume. Der bemooste Briefkasten eines Allgemeinpraktikers stört nicht.

Übrigens: Es gibt auch hier Stollen, angelegt von einem umtriebigen Frühindustriellen zur Nutzung der Wasserkraft. Die Pfadfindergruppe «Adler» leitet Besichtigungen des unterirdischen Labyrinths. Heilkräfte sind bisher keine nachgewiesen, auf einer Tragbahre ist der Einstieg nicht möglich.

Das Ziel: Die Privatspitalgruppe, Hauptsitz in Südafrika, hat mit einer Klinik einen medizinischen Hub geschaffen, in dem Sie die erwähnten Spezialärztinnen und -ärzte der Wohngemeinschaften als Belegkräfte betreuen. Die oberirdisch interpretierte Adaptation eines «Heilstollens».

Im hotelähnlichen Gebäude wird Sie die Dame um die Versicherungskarte bitten, da noch nicht im System. Hoffentlich mindestens halbprivat, sonst mit warmer Stimme empfohlen, werde Ihr Fall in öffentlichen Händen besser aufgefangen, gell!

In die Wartelounge: Man werde Sie ins Zimmer begleiten. Kaffee und Gipfeli, aber nur für die Begleitung, da ja Kunden nüchtern einzutreten haben, gell!

Allenfalls Genesung: Rückkehr nach Brunegg und ein Brief der Klinik. Die Behandlung der Stumpenbrandmale auf dem Beifahrersitz des Ferrari werde dem Patienten direkt verrechnet.

 

Herr Frischknecht

Dissertation! Der feingliedrige Buchhändler in Aarau hat Sie mit «Herr Doktor» angesprochen, als Sie noch Vorlesungen an der Uni Zürich besuchten, in denen offenbart wurde, dass nach Rilke Literatur tot sei. Welkende Lippen haben den betörenden Trank donnerstäglich aufgesogen.

Schwierig, mit so selbstgefälligem «Doktorvater».

Und der Abschluss wird erwartet. Die Familie: «Wann ist es so weit, Günter?» Hinweise auf verwandtschaftliche Karrieresprünge – «Gewusst, Günter, dass deine Cousine mit einem Seismographen verlobt ist, der in gesicherter Stellung bei der NAGRA Verwerfungen aufzeichnet?» – sollen nur ermutigen. Keine Chance als «Hilfslehrer»! Feingliedrige Buchhändler gibt es nicht mehr. Thalia hat sich Aarau mit Inbrunst zur Brust genommen: Im «Affenkasten», einer ursprünglichen Volksbeiz, ist sie niedergekommen. Unter ihrer Leibesfülle haben Buchhändler nicht überlebt.

 

 


 

Lokalbericht
Ein literarischer Paukenschlag! 27 Jahre nach dem Tod von Hermann Burger (1942–1989) erschien aus dem Nachlass sein erster bislang unbekannter Roman «Lokalbericht» (1970; Voldemeer, 2016): Der Protagonist Günter Frischknecht sitzt im sonnigen Tessin und schreibt gleichzeitig an einer Dissertation und an einem Roman. Dabei geraten ihm die Zettelkästen durcheinander – und plötzlich steht er vor einer folgenschweren Entscheidung.

Eine zweiteilige Ausstellung im Forum Schlossplatz und im Stadtmuseum Aarau lud vom 22. Oktober 2016 bis zum 22. Januar 2017 dazu ein, die Entstehungshintergründe des Romandebüts am Originalschauplatz Aarau zu erleben.

 


 

Hermann Burger
gehört zu den wichtigsten deutschsprachigen Schriftstellern des ausgehenden 20. Jahrhunderts, seine Werke «Schilten» (1976) und «Die Künstliche Mutter» (1982) sind Klassiker der modernen Schweizer Literatur. Seine ersten literarischen Gehversuche veröffentlichte Burger in den «Schweizer Monatsheften», der Vorgängerzeitschrift des «Literarischen Monats».

 


 

Schreibwettbewerb
Eine zentrale Rolle in Burgers ambitioniertem Romankonstrukt, das sich um das Selbstverständnis des Schreibenden dreht, spielen «Briefe an den Leser». Protagonist Frischknecht schreibt sie mit viel Verve zuhanden seiner künftigen Leserschaft.

Zur Erstveröffentlichung des «Lokalberichts» schrieben das Forum Schlossplatz Aarau, das Stadtmuseum Aarau und der «Literarische Monat» einen Schreibwettbewerb aus, der den Spiess umdrehte: Jede/r war eingeladen, einen Brief an Hermann Burger oder dessen Alter Ego Günter Frischknecht zu schreiben.

Die Redaktion gratuliert den drei Siegern des Wettbewerbs, Rudolf Ingold, Konrad Bärtschi (alias Dominik Beer) und Demian Lienhard sehr herzlich – und druckt an dieser Stelle den im Juryprozess meistfavorisierten Beitrag von Rudolf Ingold in voller Länge ab.

 


 

Rudolf Ingold

war als Lehrer auf allen Stufen des Kantons Aargau und an der Bauschule Entfelden angestellt. 1984 verfasste er seine Lizenziatsarbeit über Hermann Burgers «Schilten»-Erzähler. Rudolf Ingold wohnt in Suhr.

 


Jury

Simone Lappert, Schriftstellerin
Klaus Merz, Schriftsteller, Jugend- und Autorenfreund Burgers
Michael Wiederstein, Chefredaktor des «Literarischen Monats»
Simon Zumsteg, Literaturwissenschafter und Herausgeber des «Lokalberichts»

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