Eckhart Nickel:
«Hysteria»
«Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht.» – So beginnt der unheimliche Cursus in Eckhart Nickels neuem Roman, in dem ein Herr namens Bergheim durch eine dystopische Gegenwart der Allsimulation zieht. Die Himbeeren sind anders als gewohnt, nicht blass-bläulich, nein, die hier «leuchteten in schwärzlichem Purpur, was den Früchten etwas entschieden Jenseitiges gab». Mit dieser Einstiegsszene gewann Eckhart Nickel im vergangenen Jahr den Kelag-Preis beim Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt, und obschon das Jenseits schon im ersten Absatz überdeutlich anklingt, ahnte damals noch niemand, dass hier der Beginn einer Unter- und Parallelweltreise inszeniert wird, einer Reise, die dunkel schillernd die Sehnsuchtsphantasien des linksliberalen Bio-Bürger-Milieus in eine «Hysteria»-Zukunft extrapoliert.
Als Bergheim gewahr wird, dass die vermeintlichen Früchte lediglich Kunstprodukte sind, recherchiert er jenem initialen Phänomen nach, das ihn in ein Pascal’sches «Erschrecken» versetzt hat. Er besucht die Produktionsstätte der Beeren, er lernt die «Dermoplastiker» genannten Forscher kennen, die alles, was einst Natur war, originalgetreu nachbilden. So dringt er immer tiefer ein in einen Albtraum, den Jean Baudrillard, die Wachowski-Geschwister und Henry David Thoreau miteinander träumen. «Nahrung darf sich der Mensch nur noch aus Resten zusammensuchen, die Pflanzen abgestossen haben und keine Verbindung mehr zu ihrem Organismus besitzen: Fallobst, von den Knospen gelöste Blüten, Gemüse, das lose auf Feldern liegt, Streugut, lose Blätter.» In dieser postmaterialistischen Welt des sogenannten spurenlosen Lebens wirkt nur noch die Ökoreligion, die wie so viele Glaubensrichtungen ins Radikal-Absurde gefallen ist. «Zunächst waren es nur zehn Gesetze gewesen, die ihren Weg aus der Hochschule in die Öffentlichkeit gefunden hatten, angelehnt an die biblischen Gebote.» Schon diese Gebote allerdings besagten, dass der Mensch kein Recht mehr habe, die Natur zu nutzen. Er soll die Krone der Schöpfung abgeben, kein Tier dürfe ihm mehr Untertan sein, und daraus folgt: «Nach der Jahrtausende währenden Unterwerfung der Natur durch den Menschen, die fast in ihrer völligen Zerstörung gipfelte, verpflichtet sich die Menschheit, Zug um Zug sämtliche Eingriffe in das natürliche Leben zurückzunehmen und für immer zu beenden.» Ja, in diesem Roman schafft sich die Zivilisation aus Selbsthass ab, sie gibt sich einfach auf.
Auf der reinen Oberfläche bearbeitet Nickel also die Schlagworte unserer Zeit, in der der deutsche Spiesser keinen dicken Benz mehr besitzt, sondern ein schickes Retrofahrrad. Was heute noch unter «Anthropozän» firmiert, wird in «Hysteria» zum Self-Punishment der gesamten Zivilisation. Unter dieser Oberfläche aber ist mehr als Zeitgeistkritik, denn der Mensch ist in diesem Roman kein Wesen mehr, das im Sinne Søren Kierkegaards gross ist, weil es im Elendigen verhaftet bleibt – hier ist das, was uns ausmacht, schlicht verdammenswert. Es war Michel Houellebecq, der als einer der ersten Neo-Dekadenz-Schriftsteller Roman für Roman beschrieben hat, dass die Abschaffung des Menschen eben nicht von dämonischen Gentechnikern oder Islamisten, die mit Gewalt unsere westliche Welt überrennen, vorangetrieben wird. Nein, die Bedingungen unseres Zerfalls stecken tief in der gesellschaftlichen DNA unseres Lifestyles – wir selbst werden uns überflüssig machen, wir selbst werden alles, was unser schrecklich-schönes Sein ausmacht, eliminieren. Nickel denkt diesen Ansatz radikal weiter, spinnt ihn ein ins Alltagssetting eines westdeutschen Bürgertums, personifiziert durch Monsieur Bergheim. Und man spoilert diesen brillanten Roman nicht, wenn man verrät: Seine Odyssee endet wie Francis Ford Coppolas «Apocalpyse Now» – Vietnam muss Nickel dazu gar nicht mehr bemühen.
Eckhart Nickel: «Hysteria». München: Piper, 2018.