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Nora Gomringer: «ach du je»

Nora Gomringer:
«ach du je»

 

«Wir müssen tanken», sagt er. Während er an der Zapfsäule steht, nehme ich Nora Gomringers «ach du je» aus der Tasche. Ich mache das Radio aus. Das sind nicht aus Verlegenheit Sprechtexte geworden, weil man sie keiner direkten Gattung zuordnen kann, nein, diese Texte brauchen eine Stimme. Und ich brauche die Stille, um die Stimme zu hören. Er steigt ins Auto und macht gleich das Radio an. Ich schalte es wieder aus. Was denn los sei, will er wissen. «Ich lese», sage ich.

Während wir über die Autobahn fahren, begegnen mir Tiere, die an die Bremer Stadtmusikanten erinnern, eine Tochter, die sich neben ihre sterbende Mutter ins Bett legt, oder es wird «Ich packe meinen Koffer…» gespielt. Aber: was ganz kindlich beginnt, wird zur existentiellen Bedrohung für das sprechende Ich.

In jedem der Texte spricht so eines. Jedes ist im besten Sinne selbstbestimmt: es steht für sich ein, auch wenn das fatale Konsequenzen mit sich bringt. Ich bewundere den Mut, der mir in den Texten entgegenkommt, und ich bewundere die Kraft in den Worten Nora Gomringers. So viel Schmerz in so wenigen Worten. Die Genauigkeit, die Gomringer in ihrer Sprache gelingt, sei es auch in fragmentarischen WhatsApp-Nachrichten, im Protokoll des Beziehungsabbruchs «Vorbei bin ich»: Das Medium verstümmelt die Sprache, aber auch da ist noch immer so viel Poesie: «Ich bin ziemlich schnell. Für eine, die vollgesogen ist mit Trauer und Nicht-fassen-Können.»

Bei jedem Wort, das mich schüttelt, klebe ich ein Post-it ins Buch. Er schaltet einen Gang höher. Ich sähe schön aus, wenn ich lese, sagt er. Ich streiche ihm über den Kopf und spüre, wie brüchig alles ist, wie unbeholfen wir sind und wie unscharf unsere Sprache am Ende doch bleibt.

Er wolle alleine sein, weil er sonst nicht nachdenken könne, sagt er später, im Bett. «Inneres Memo: Merke dir dieses Gefühl. Vergib es ihm nicht.» In der Nacht wache ich auf und lege meine Hand auf sein Herz, das zuverlässig schlägt. Dann stehe ich auf und setze mich in die Küche. «Ich packe meinen Koffer mit einem Hut und einem Hutband und einer kleinen Zimmerpalme und deinem Versprechen nachzukommen und der Erinnerung an einen Kuss und Minzlippen, die ihn küssten und viel Luftvolumen in deinen Schweigeminuten und Herztöne, die man durchs Telefon kaum wahrnahm und doch eingestehen musste, dass sie da waren und einem auf die Zunge pulsen wollten und dir sagen und jetzt, doch jetzt muss ich doch fort und meinen Koffer packen.»

Ich nehme meine Tasche, verlasse die Wohnung, ohne Zimmerpalme, und stehe plötzlich in einer veränderten Welt. Ohne sein Versprechen, nachzukommen – aber mit dem tröstendsten Buch, das ich seit langer Zeit gelesen habe.

Nora Gomringer: ach du je. Luzern: Der gesunde Menschenversand, 2015.

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