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Charles Lewinsky: «Der Stotterer»

Charles Lewinsky:
«Der Stotterer»

Nach «Kastelau» wagt sich Charles Lewinsky ein weiteres Mal an unkonventionelle Erzählformen.

Johannes Hosea Stärckle hat kein einfaches Leben. Nicht nur, dass er unter einer Sprachstörung leidet und sich deshalb mündlich nur schwer ausdrücken kann, er ist auch in einer streng religiösen Familie aufgewachsen und hat nie gross Zugang zu anderen Menschen gefunden. So weit könnte Charles Lewinskys neuster Roman «Der Stotterer» bloss das stille Porträt eines Aussenseiters sein – wenn da nicht der Umstand wäre, dass wir all das aus Johannes’ Aufzeichnungen im Gefängnis erfahren. Denn schriftlich, so stellt sich heraus, hält sich dieser Mann für allen und allem überlegen und über dem Gesetz stehend.

Nicht nur deswegen ist Lewinskys Protagonist recht unsympathisch. Dass er offen zugibt, unmoralisch zu sein und dementspre-chend zu handeln, macht es nicht besser. An allem sind die anderen schuld: Eltern, Schulkameraden, die wenigen Freunde – und natürlich die Gesellschaft überhaupt. Kein Wunder, dass eines von Johannes’ Vorbildern der klassische Misanthrop Schopenhauer ist und er – obwohl Atheist – das Alte Testament dem Neuen gegenüber bevorzugt. Johannes, könnte man sagen, leidet an toxischem Egoismus. Im Gefängnis bringt er all das zu Papier, was ihm bislang nicht flüssig über die Lippen kommen wollte, und schreibt und revidiert so quasi seine eigene Lebensgeschichte.

«Ich war schon immer gern das Gespenst hinter meinen Texten», sagt er an einer Stelle im Roman – sein geheimes Lebensmot-to. Dass sich Autoren hinter ihren Büchern verstecken, ist nichts Neues – dass dies auch literarische Figuren können, hingegen schon. Statt auktorialen Einwürfen haben wir nur das, was uns in den Briefen und Tagebucheinträgen von Johannes vorliegt. Sein Werdegang von Kindesbeinen an bis zu seinem Gefängnisaufenthalt zeigt, wie er als erfolgreicher Trickbetrüger in immer höhere kriminelle Weiten aufsteigt – sein zweites Leben als werdender Schriftsteller hinter Gittern liest sich im Vergleich dazu eher still und überschaubar.

Nach «Kastelau» wagt sich Charles Lewinsky ein weiteres Mal an unkonventionelle Erzählformen. Tatsächlich ist es spannend, den (erlogenen oder realen) Stationen im Leben von Johannes zu folgen, und stilistisch ist das Buch ein Genuss. Doch unglücklicherweise kommt das Ende dann früher und abrupter, als man hoffen möchte – als hätte Johannes absichtlich den Schlussstrich gezogen, um sein eigenes Leben zur rechten Zeit stilvoll abzuschliessen. Johannes Hosea Stärckle verstummt, sobald das Buch zugeklappt wird. Was zurückbleibt, ist ein stimmiges, in sich geschlossenes Sprach- und Kammerspiel.


Charles Lewinsky: Der Stotterer. Zürich: Diogenes-Verlag, 2019.

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