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Matthias Zschokke: «Ein Sommer mit Proust»

Matthias Zschokke:
«Ein Sommer mit Proust»

 

Marcel Prousts «A la recherche du temps perdu» zählt zu den hoch kanonisierten Gipfeln der Weltliteratur: in ihrem Rang ebenso unbestritten wie mutmasslich weitgehend ungelesen. Hämisch liesse sich deshalb vermuten, dass die berühmte Madeleine-Szene nur darum so berühmt sei, weil sie ziemlich zu Beginn der «Recherche» vorkommt – weiter habe kaum jemand gelesen.

Matthias Zschokke jedoch beugt sich dem Druck seines schlechten bildungsbürgerlichen Gewissens und knöpft sich das Werk integral vor – mit negativer Bilanz. Die Lektüre war für ihn, kalauerhaft formuliert, mehrheitlich «verlorene Zeit». Vor allem will es Zschokke partout nicht einleuchten, weshalb ausgerechnet diese megalomane, versnobte, ja geradezu eitle, oft auch gähnend langweilige, mit überkandierten Satzgirlanden ausgestattete Schwarte zu den Jahrhundertwerken zählt, die «man gelesen haben müsse». Die Lektüre sei alles andere als ein Genuss, vielmehr gleiche sie einem Kampf, den man nolens volens verlieren müsse: «Irgendwann gibt wohl jeder Leser auf und zieht seinen Hut, und wär’s auch vor lauter Erschöpfung.»

Seinen Lesefrust hat Zschokke nun in Form eines kleinen, von frivoler Respektlosigkeit und ätzender Komik getragenen Kommentars katalysiert. Dem monumentalen Riesenwerk hält Zschokke ein ostentativ schmales Bändchen von nur 61 Seiten entgegen. Ein getAbstract ist davon aber nicht zu erwarten, eher schon ein «Readerʼs Digest» im Wortsinn: Zschokke versucht die schwere Lesekost durch Polemik zu verdauen. Unterstützung und Ermunterung erhält er u.a. vom Proust-Kenner Luzius Keller, der ihn in die Geheimnisse der Proust-Philologie einweiht – mit dem ambivalenten Effekt, dass sie bloss Zschokkes Verdacht bestärken, die «Recherche» sei eine esoterische Angelegenheit für «Schwarzgürtel-Leser».

Dass Zschokke meisterhaft (und auch höchst amüsierlich) über den Literaturbetrieb zu wettern versteht, weiss man seit der Publikation von «Lieber Nils». Das vorliegende Bändchen, ebenfalls in Briefform geschrieben, ist quasi der Wurmfortsatz davon. Während «Lieber Nils» im Feuilleton auf Begeisterung stiess, findet man den aktuellen Angriff auf die heilige Kuh der Weltliteratur weitaus weniger lustig. Man mag über Zschokkes Proust-Bashing den Kopf schütteln oder verärgert sein, man sollte dabei aber die literarische Stilisierung dieser Tirade nicht verkennen, die deutliche Züge einer Bernhard’schen Erregung trägt. Wie der österreichische Betriebspolterer, der gnadenlos über Stifter und Heidegger vom Leder zog, gefällt sich auch Zschokke in der Rolle des Agent provocateur, der genüsslich eine literarische Koryphäe vom Sockel stösst.

Man tut deshalb gut daran, die kleine Tirade mit ironischem Augenzwinkern zu lesen. Somit kann Zschokke einzig vorgeworfen werden, was er selber gegen Proust vorbringt, wenn er hinter der «Recherche» «eine monströse Koketterie» vermutet. Denn letztlich ist die von Zschokke oberflächlich zur Schau gestellte «Wut» bloss Ausdruck einer tieferliegenden «Bewunderung».

Matthias Zschokke: Ein Sommer mit Proust. Göttingen: Wallstein, 2017.

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