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Der falsche Jahrgang

Schon bevor er 1977 das erste deutschsprachige Punk-Fanzine «No Fun» mitherausgibt, lebt Peter Preissle von und für Musik. Und fragt sich heute: Hiess Pop schon immer «Alles ist hörbar»? Ein Rückblick ins Zürich der frühen 60er Jahre.

Es gibt keine unpopuläre Musik. Wir haben alles schon gehört. Jede Tonreihenfolge schon mal durchgespielt. Alles wird hörbar. Selbst ein Werk wie «Metal Machine Music» von Lou Reed. Die Daten: Doppelalbum Vinyl, vier Seiten, jede genau 16 Minuten und 1 Sekunde lang. Darin weder Melodie noch Rhythmus. Nur ein einziger langer Schwall von Rückkopplungen. Schwer hörbar – erst recht alle vier Seiten hintereinander. Und selbst dieses Werk ist heute populärer denn je. Ein Kultalbum. Gerade wegen seiner Radikalität.

Wenn der alte Lou von den alten Velvet Underground nach einer langen Solokarriere auf einmal mit Metallica zusammenarbeitet und die Musikkritiker das gut finden, dann haben wir heute einen Toleranzwert erreicht, den niemand je für möglich gehalten hätte. Gotthard und Peter Zinsli. Das Rolling-Stones-Konzert im Letzigrundstadion 2003: ein älterer Herr mit Stones-T-Shirt neben seinem Enkel oder Söhnchen in Slipknot-T-Shirt. Auch ich wollte das nochmal erleben. Wie das erste Mal 1973 in Bern – für das Konzert im Zürcher Hallenstadion 1967 war ich noch zu jung. Aber 2003, da ist es mir sehr bewusst geworden, wie sich das alles so schön angeglichen hat. Wie war das eigentlich in meiner Kindheit? Mit Jahrgang 1956 eigentlich zu jung für die Beatles und die Hippies, später dann für anderes wieder eher zu alt.

Ein Rückblick.

Mitte der Fünfzigerjahre: eine Generation von Liberalen? Mutti 19, Papi 24. Wohnhaft bei den Eltern von Papi an der Rotwandstrasse, Kreis 4. Am 22. März 1956: Ich erscheine auf dieser Welt. Eltern verheiratet in Mischehe, getraut in der reformierten Kirche zu St. Jakob am Stauffacher, nicht in Weiss. Ich ebenfalls da getauft. Vater berufstätig, Mutter Hausfrau. Vater mag: Lionel Hampton, Gene Krupa und anderes Jazziges. Kann sich auch mit Rock’n’Roll anfreunden. Es geht voran: Die erste eigene Wohnung an der Zurlindenstrasse im Kreis 3, gleich vis-à-vis vom Schulhaus. Meine Schwester kommt an, und nach und nach auch der Drang meiner Eltern nach Ausgang wieder. Ich bekomme das in der Erscheinung eines Teenagers mit Pferdeschwanz mit: Trudi, die Babysitterin, wohnt in der Nachbarschaft und steht auf Rock’n’Roll. Mutti kauft regelmässig die Bravo. Sie kann zwar nicht lesen, findet aber die Bildli toll. Trudi übernimmt die alten Nummern und dekoriert ihr Zimmer damit. Trudi hat Geburtstag. Papi will ihr die Single «Wooden Heart» von Elvis Presley schenken, die gerade erschienen, aber wohl überall schon ausverkauft ist. Das muss 1960 gewesen sein. Laufen kann ich also schon, muss aber auch gleich recht tüchtig ran: So viele Musikalien- und Elektroläden von innen habe ich wohl auch danach nie mehr in so kurzer Zeit gesehen. Das einprägsamste Erlebnis meiner frühen Kindheit in Sachen Musik. Früh auch schon technisch begabt und bald ist der Wunsch nach einem Plattenspieler da. Den gab es aber nur bei den Eltern von Trudi – eingebaut in ein Musikmöbel. Türchen auf, Licht an und da war sie: die Herrlichkeit! Neben dem Plattenspieler ein Gestell für die Platten. Der Tonarm schon automatisch. Einfach wunderbar. Aber nicht zum Anfassen: «Wenn du dieses Türchen während eines Musikstücks öffnest, dann kommen Schlangen raus.» Ja, ich hab’s geglaubt und das Heiligtum in Ruhe gelassen.

YEAH YEAH YEAH

Der Familie geht es besser: Vom Parterre im Kreis 3 in den Kreis 2 an die Hügelstrasse, 2. Stock. Mittlerweile in der Primarschule und die Beatles tönen schon überall herum. «YEAH YEAH YEAH» – im «Bambus» gibt es diese karierten Westen ohne Kragen. Die Beatles-Stiefeli – «Sie liebt mich» und «Komm, gib mir deine Hand!» auf Deutsch. Mutti kauft noch immer die Bravo und ich lerne damit lesen. Ganz interessant, was da so steht: Nein, noch keinen Doktor Sommer, übrigens grad gestorben, und auch keine Nackten. Schon eher Mini-röcke. Auch die Starschnitte. Dann war da noch dieses Fest auf der Allmend: die Eltern in der Gartenwirtschaft und ich im Beatschuppen. Die Band in der Mitte und die Halbstarken toben auf diesem Unding von rotierender Tanzfläche. Voll laut und geile Action. Mehr als zuschauen lag für mich aber noch nicht drin. Papi fand die Beatles jetzt ganz toll, war aber bei den Rolling Stones nicht mehr so richtig dabei. Der Jagger ging ihm auf den Sack und Brian Jones war ihm zu weibisch. Endlich! Musik für mich. Die Stones! Einfach härter, bunter. Ein Haufen voller toller Hunde – im Gegensatz zu den Beatles, die immer so schön strahlten. Auch in der Primarschule: Beatles und Stones. Fans von beiden Seiten. Reges Reklamieren: «Meine Truppe ist eh viel besser!» Und dann das Konzert in Zürich. 1967. Keine Chance, als 11jähriger ins Hallenstadion zu kommen. Auch mit Papi nicht. Stattdessen bin ich im Lavater-Schulhaus in der Enge. Und die Rolling Stones im Hotel Ascot am Bahnhof Enge. Keine 500 Meter vom Schulzimmer entfernt. Folter. Nein, ich bin nicht von zu Hause abgehauen. Stattdessen die Einsicht: Ich bin zu spät geboren.

Mittwochnachmittagsfreizeitverhalten

Die Enge wurde immer enger und der Citydruck nahm zu. Im Rieterpark verteilte der Gärtner noch Ohrfeigen – Rasen betreten verboten. Aber es gab ja noch den Jelmoli mit seiner Plattenabteilung. Wirklich grossartig: Schallplatte aussuchen, dem Fräulein an der Plattenbar überreichen. Sie – die sahen immer aus wie Popstars – legt die Scheibe auf und weist uns zur Kabine, in der man zu dritt Platz nehmen konnte. So denn eine frei war. Sonst hiess es: ab an die halben Telefonhörer direkt an der Bar. Gab ja auch nichts zu reden, nur zu hören. Singleplatten, die kleinen Schwarzen, so um die CHF 3.90 oder CHF 4.50 je nach Laden das Stück. Sogar der Franz Carl Weber hatte eine Schallplattenbar. Sie liebten uns nicht so richtig, diese scharfen Bräute hinter dem Tresen, natürlich. Aber irgendwie schafften wir es immer mal wieder, das Geld zusammenzukratzen und uns so ein Teil zu kaufen.

Die heissesten Typen, das waren die, die Platten für die Musikbox kauften oder auch schon auflegten. Die traten an den Tresen und die Maus dahinter strahlte ihr Strahlen. Dann langte sie nach unten zu der Box mit all den Singles, die sie für den Typen auf die Seite gelegt hatte. Ja, auch die sahen aus wie Popstars, hörten die Platten, taten wichtig. Kauften dann aber auch immer ganz schön ein. Nach der Arbeit haben die bestimmt mit den Bräuten von der Plattenbar rumgemacht (sagt man dem zwischenzeitlich nicht «Poppen»?). Um ein bisschen Eindruck zu schinden, kam es ja dann auch noch drauf an, welche Single du hörtest. Die Bee Gees waren viel zu harmlos – «Now I found, that the world is round». Mit «Hey Joe» vom guten alten Hendrix hatte man denn schon einen ganz anderen Stellenwert. Am peinlichsten: Hörer am Ohr, mitsingen und nichts merken – bis die Lady von der Theke mehr oder weniger höflich einschritt. Dann warst du der Loser.

Und zu der Zeit nannte man das alles Pop. Im Radio der Mister Pop mit der Hitparade. Die Bravo voll out, das POP aber richtig in. Jeans, bei meinen Eltern eh nie ein Thema, hatte ich schon im Kindergarten. Das mit dem Haarschnitt war nur in der Schule ein Problem, bei gewissen Lehrkörpern. Ganz geil dann die Lammfelljacken in allen Farben und mit Stickereien. Die gab es am billigsten im «Tury». Klar, rochen die nach Lamm, aber richtig schlimm war es erst, wenn sie nass wurden. Bei Regen waren die Teile fast nicht auszuhalten. Es gab das «Pony», das «Marökkli», das «Türk», das «Bali». Aber für die waren wir einfach noch zu jung, sie liessen uns nicht rein. Also schon wieder falscher Jahrgang.

Man lümmelt sich durch die City. Alkohol und Drogen, ja, man wusste, das gibt es. Man hat immerhin das POP gelesen. Sie durften noch ein bisschen warten. Töffli, auch zu jung, aber auch uninteressant. Ab und zu einen Batzen von den Eltern fürs Hallenbad. Dann die Badehose nassmachen als Beweis für die sportliche Tätigkeit und ab ins richtige Freizeitvergnügen: in die Plattenabteilungen der Warenhäuser.

Das gesparte Eintrittsgeld für eine Single eintauschen. Zu Hause dann Erklärungsnot: Die B-Seite hat einen Kratz. Der Umschlag ist schon abgenutzt.

So hat man sich dann die Primarschulzeit eingerichtet. Mit Musikhören. Mit Pop.

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Der Schweizer Schriftsteller Christian Kracht?

«Christian Kracht ist Schweizer», so steht es in neueren Publikationen des Autors. Reicht aber dafür sein Schweizer Pass, auf den er sich gern beruft? Und: ist der Schweizer Pass das letzte wahre Statussymbol? Davon jedenfalls wusste Kracht seine damaligen Mitstreiter aus dem «popkulturellen Quintett» schon 1999 zu überzeugen. Bis zu seinem 12. Lebensjahr wächst Kracht […]

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