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Laura Vogt, zvg.

«Die Monster sind überall!»

 

Mein bald vierjähriger Sohn bleibt abrupt vor mir stehen; Verwunderung und Angst liegen in seinem Blick. Wie jeden Tag haben die Kinder der Genossenschaft Stunden miteinander im grossen Garten verbracht, und wie so oft erreichte ihr Beisammensein in der Zeit vor dem Abendessen einen kritischen Höhepunkt, um dann ins «Monsterspiel» abzurutschen. Zwei der grösseren Kinder jagen darin den kleineren nach und imitieren Ungeheuer. Nun will mein Sohn ins Haus, dabei weiss er längst, dass die Monster nicht nur draussen sind – sondern auch drinnen.

Gemeinsam steigen wir die Treppe zur Wohnung hoch und ich erinnere mich, wie er mir am Abend zuvor, als ich ihn ins Bett brachte, erläuterte: «Dann ist das Festhaltmonster gekommen.» Sofort hatte ich gewusst, dass er von mir redete, von meiner Hand, die ihn am Nachmittag kurz, aber mit zu viel Druck am Handgelenk festgehalten hatte, weil mich einer seiner Wutanfälle überforderte. «Ich bin kein Monster. Ich bin eine Mutter», zitiert der Protagonist seine Mutter im Briefroman «Auf Erden sind wir kurz grandios» (Hanser 2019), verfasst vom vietnamesisch-amerikanischen Autor Ocean Vuong. Kurz darauf kommt er zum Schluss, dass sie beides sei – eine Mutter und ein Monster.

Anders als bei Ocean Vuongs Protagonisten und seiner Familie geht es bei uns nicht um Kriegstraumata und Schläge, und trotzdem greift Vuongs Reflexion auch hier. «Ein Monster zu sein bedeutet, ein Mischsignal zu sein, ein Leuchtturm: Zuflucht und Warnung zugleich.» Wir Eltern führen unsere Kinder in diese Welt, bieten Geborgenheit. Gleichzeitig massregeln und beschränken wir sie vom ersten Moment an, willentlich oder nicht. Wir sind Monster und Mütter (oder Väter) zugleich.

Mein Sohn öffnet die Wohnungstür, es riecht nach Angebratenem und Kaminfeuer; entzückt schreit er auf, als sein Vater mit breitem Grinsen aus der Küche tritt.

«Es gibt Monster-Burger!», sagt er. Mein Sohn dreht seinen Kopf zu mir und lächelt mich an.

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