Die Natur des Menschen
Kurze Sätze über Grate
Zuerst einmal musste er sich aus ihr herauskämpfen. Es war kein seliger Zustand, als der Mensch mit der Natur eins war in grünfinsterer Vorzeit, er wurde von ihr gefressen und verschlungen, musste sich seinen Platz schlagen, um aus ihr herauszutreten, sich freiroden und vom umherschleichenden Jäger zum schlauen Bauern werden, dem die Natur in winzig kleinen Königreichen untertan werden sollte. Er zog einen Zaun und grenzte sich ab. Teile und herrsche. Hier die Tiere, dort die Pflanzen, im Hause er selbst. Der Mensch zähmte im Garten seine Natur, nutzte und gestaltete sie und definierte unbewusst und in jeder Epoche neu sein Verhältnis zu ihr. Dass dies ein zwiespältiges ist, mag in der nicht einfachen Früherfahrung begründet liegen. Doch ungeachtet aller Domestizierung, ein Dämon lauerte ihm weiterhin: die kaum zu bewältigende Gewissheit von der Übermacht da draussen, von der Unfassbarkeit und dem eigenen Verlorensein darin. Hier halfen die Berge. Als die Engländer im 17. Jahrhundert zu ihren Kulturreisen aufbrachen, mussten sie gezwungenermassen über die Alpen, die ihnen «the rubbish of the earth» waren, aufgehäuft, um die schöne lombardische Ebene zu formen. Doch nur wenig später dienten die gleichen Gebirge dazu, ein Konzept zu etablieren, das den Menschen endlich enttraumatisierte: das Erschütternde wurde das Erhabene. In Dichtung und Malerei fand diese Vorstellung rasch Verbreitung, und nicht zuletzt die Berggemälde von Caspar Wolf popularisierten diesen neuen Blick auf die steinerne Bedrohung. Der Mensch sitzt oder steht als Miniatur vor wonnig beleuchteter Bergkulisse, die er aus sicherer Warte betrachtet, ergriffen vom wohligen Schauer. Dieser ergänzende Begriff, der in der Literatur als Schauerroman in Mode kam, trug ebenso dazu bei, im Schrecklichen nun schwelgen zu können, da ein Ende erwartet werden durfte, das jeden Grusel in Wohlgefallen aufgehen liess. Damit hatte die Aufklärung, die der Natur mit strenger Ordnung und Vermessung beikam, den letzten blinden Flecken vereinnahmt. Die Unheimlichkeit konnte dank des Erhabenen und der Erfindung des wohligen Schauers gebannt, ja sogar genossen werden. Ein Berg war nicht länger schrecklich, sondern schrecklich schön anzuschauen. Dieser Behaglichkeit machte ausgerechnet die Romantik den Garaus. Caspar David Friedrichs Gemälde «Der Mönch am Meer» war ein Schock, der die Bergidylle mit dem Meer hinwegfegte. Mit einem bleiernen Meer, das konturlos in eine Naturgewalt von Himmel übergeht, kein Halt, nirgends. Ein Abgrund in der Schwebe von Nacht und Tag, eine radikal entgrenzte Landschaftsdarstellung. Heinrich von Kleist meinte dazu: «…als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.» Die Natur war wieder dunkel, überwältigend, geheimnisvoll, gefährlich. Und dorthin wollten die Romantiker aufbrechen. Ihr Sehnen setzte sich über die Zäune der Gärten hinweg, sie träumten das Unbekannte. In Hans von Trothas Essay «Im Garten der Romantik» offenbart sich in frappierender Klarheit, wie sich Naturbetrachtung kulturgeschichtlich gewandelt hat. Dabei liest sich dieses erhellende und geistesblitzende Lehrstück über Gartenkunst nicht allein im Kapitel über die ästhetische Erschliessung der Alpen als eine kluge Parallele zur Bergliteratur. Die Naturvorstellung des Menschen hat sich stets in seiner Verortung zu den Bergen verdichtet. Die Aufklärung etwa im Wanderer, der auf kontrollierten Wegen seinen Berg wie einen Garten in beglückender Betrachtung durchschreitet. Der Bergsteiger hingegen, der alle Pfade hinter sich lässt, von der Unendlichkeit träumt, die gewaltigste Natur aufsucht und sie am Ende in sich selbst entdeckt, ist ein purer Romantiker. Ob ihm das passt oder nicht.
Buch: Hans von Trotha: Im Garten der Romantik. Berlin: Berenberg, 2016.
Markus Rottmann ist freischaffender Texter in Zürich. Von ihm zuletzt erschienen: «Amores Mortis – Die Liebschaften des Todes» (mit der Gestalterin Franziska Burkhardt; lectorbooks, 2017), «Black Island» (mit dem Illustrator Thomas Ott; Hammer-Verlag, 2013) und «Calanca – Verlassene Orte in einem Alpental» (mit dem Photographen Oliver Gemperle; Benteli, 2010). In dieser Kolumne beschäftigt sich der Hobbyalpinist jeweils mit Büchern von und mit Bergen.