Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Im Bett mit Ecopop

Wie ich während Franz Hohlers Erzählung «Die Rückeroberung» einschlief und aus einem Albtraum erwachte.

«Anarchie, ein Zustand der Anarchie, ist erschreckend und befreiend zugleich.» – Franz Hohler über «Die Rückeroberung»

Meine Herzensdame und ich haben uns abwechselnd daraus vorgelesen, als wir an einem verregneten Herbstabend dichtegestresst, oversexed und underfucked, wie das heute so ist, in meinem Zürcher Bett darniedersanken. Nicht nur seiner angenehmen Kürze wegen ist Franz Hohlers Erzählband «Die Rückeroberung», 1982 erschienen und legendär geworden, das ideale Buch vor dem Einschlafen. Hohlers Fabulierkunst: Kopfkino!

Seine dahinplätschernde Sprache, lange, mit Kommata abgetrennte, aneinandergereihte Sätze, lässt seine Geschichten in die Gedankenwelt des Lesers einsickern, wo sie Gewohntes in einer beunruhigenden Leichtigkeit unter- und überspülen. «Die Tramwagen stauten sich, ohne dass sich die Passagiere getrauten auszusteigen, die Automobilisten versuchten ihre Wagen auf das Trottoir zu steuern, einige liessen angesichts der nahenden Herde ihr Auto mitten auf der Strasse stehen und flüchteten in einen Hauseingang, andere kurbelten ihre Scheiben hoch und blieben sitzen, sie verschwanden in den Tieren wie ein Stein in den Fluten» – so schildert Hohler den Moment, als nach Adlern plötzlich auch Hirsche in grosser Zahl über die Stadt Zürich hereinbrechen wie Heuschrecken über ein Kornfeld. «Da beschreibt einer fast im Konversationsstil Ungeheuerliches», schrieb die «Basler Zeitung» einst in einer Rezension über die titelgebende Kurzgeschichte des Erzählbands, die in den wachstumskritischen 1980er Bewegungen zum Pflichtstoff avancierte.

Der Plauderton, den Franz Hohler in der Erzählung anschlägt, um vom unaufhaltsamen Sieg der Natur über die Zivilisation zu berichten, vor allem aber der Umstand, dass der
Erzähler seine Niederlage kampflos hinnimmt, verleiht dem Buch seine Wucht. Vorgelesen unter einer Zürcher Bettdecke verstärkt sich dieser Effekt: Als Zuhörer werde ich in den Bann einer verstörend nüchternen Schilderung gezogen, wie die vertraute Welt der eigenen Stadt langsam, aber stetig und vor allem fundamental aus den Fugen gerät. Als nach den Hirschen plötzlich auch Wolfsrudel Zürich besiedeln, schafft es Hohler in nur einem Satz, dem brachialen Eindringen der verdrängten Natur in das städtische Leben die angemessene Tragweite zu geben: «Die ersten, die dann die Wölfe zu Gesicht bekamen, waren die Kinder aus der Schulklasse meines achtjährigen Buben.»

Hohlers Dramatik liegt in seiner Unaufgeregtheit. Das trifft sich für eine Bettlektüre nicht zuletzt deshalb gut, weil die Zeiten ja dramatisch sind und die dauererigierte Welt mit ihren Breaking News und Live-Tickern derart ermüdend, dass das Bett nach der Badewanne der zweitbeste Ort ist, um bitte nicht daran teilzunehmen. Dauernd geht die Welt unter, immer mit Getöse. Und wir sind aufgefordert, uns dagegenzustemmen, irgendwie. In Hohlers Erzählung geht zumindest die Stadt Zürich unter – nach und nach und einfach so wird sie von der Natur verschluckt, als wäre dies das Natürlichste der Welt. Das entspannt, ganz ungemein.

Weniger entspannt ist das revolutionäre Potential, das sich aus diesem Zeitgeist entwickelt hat und das Bett nicht nur dem nassen Herbstabend wegen als Zufluchtsort begünstigt: Ecopop.

Die Natur schlägt zurück, die Apokalypse ist ökologisch, grün und vor allem: sie verdrängt den Menschen. Das ist in groben Zügen die Handlung von Hohlers Erzählung, die er aus der beobachtenden Ich-Perspektive schildert. Die Natur rettet sich auf Kosten des Menschen. Dieser grüne Traum von Ende 1970er, Anfang 80er ist ein grüner Traum geblieben und kehrt als Albtraum wieder. Bei Ecopop schlägt der Mensch für die Natur zurück. Und nicht die Natur verdrängt den Menschen, sondern Menschen andere Menschen, im Namen der Natur. Franz Hohlers Erzählung ist das literarische Zeugnis einer ökologischen Bewegung, die ihre eigene Existenz als Schädling für Natur und Umwelt problematisiert, statt wie Ecopop den fruchtbaren Boden der Fremdenfeindlichkeit zu beackern, nur damit der Wachstumskritik endlich Taten folgen. Grüne Radikalität, so vermittelt Franz Hohlers gelassene Schilderung der eigenen Verdrängung, bedingt die Preisgabe auch von sich selbst.

Der Autor unterstreicht dieses Statement, indem er nichts beschönigt. In Hohlers Geschichte findet sich in keiner Zeile Zurück-zur-Natur-Verklärung. Die Natur revoltiert, der Mensch wird in der Nahrungskette wieder zum Beigemüse – um nichts mehr und nichts weniger dreht sich die Erzählung. «Auf eine Art ist es eine Bereicherung des Stadtlebens, aber irgendwie ist mit diesen Tieren auch der Schrecken wieder eingezogen. Das Schreien der Katze zum Beispiel, die sich gegen den tödlichen Zugriff eines Adlers wehrt, ist fast nicht auszuhalten», schildert der Erzähler eindringlich das neue Fressen und Gefressenwerden in der Stadt. Nicht weniger eindringlich die Beschreibung, wie der Jugoslawenjunge in der Klasse seines achtjährigen Sohnes von den Wölfen gerissen wird: «Er habe nur einmal geschrien, sagte die Lehrerin, die vor Entsetzen ausser sich war, anscheinend hatten ihm die Wölfe gleich die Halsschlagader durchgebissen. Als die Polizei eintraf, konnte sie nur noch der Blutspur folgen, die zur Nähe des Waldweihers führte. Dort lag das, was die Wölfe von Ilja übriggelassen hatten.»

Und trotzdem ist Hohlers Erzählung an diesem Abend im Bett natürlich Ecopopliteratur. Zu verführerisch spielt der hochpolitische Autor darin mit der Phantasie der Leser, es könnte ja auch alles anders sein: weniger schnell, hoch, weit, weniger komplex, naturergeben. Die gleiche Verlockung schlummert für eine Gesellschaft, die von sich selber genug hat, auch in Ecopop. Wie nahtlos die Wachstumsskepsis von einst und die Wachstumsmüdigkeit von heute ineinander übergehen, deckt Hohlers Kurzgeschichte – heute gelesen – schonungslos auf. Die sehnliche Erwartung der Apokalypse, des Bruchs, des Nichtmehrsoweiter – sie steckt in Hohlers Geschichte, in Ecopop, in der Gesellschaft und auch in mir, wie ich ermattet unter der Bettdecke liege und die Erzählung von der Rückeroberung der Stadt durch die Natur an mir vorbeiziehen lasse wie den Twitter-Stream aus dem Häuserkampf der Kurden in Kobane. Gefragt nach dem Grund für den Erfolg seiner Erzählung, antwortete Franz Hohler vor Jahren in einem Gespräch mit Schülern: «Anarchie, ein Zustand der Anarchie, ist erschreckend und befreiend zugleich. Und vielleicht ist die Beschreibung von diesem Zustand der Stadt Zürich eine Beschreibung dieser Sehnsucht nach dem Erschreckenden und dem Befreienden zugleich.»

Beschleicht mich deshalb in Zürich neuerdings das Gefühl, alle warteten auf die befreiende Apokalypse, darauf, dass sie gopferdammi endlich kommen möge? Da werden wieder Cocktail-Parties im edlen Zwirn gefeiert, mit Jazzmusik im Hintergrund, da weht – in meiner Wahrnehmung – ein Hauch von Vorabend des grossen Krieges durchs Amüsement. Es wäre ja auch nicht zeitgemäss, würden wir unsere Sehnsucht nicht zum Lifestyle machen. Aber Sehnsucht nach was? Nach so etwas wie Ecopop, einem Bruch – zugleich erschreckend und befreiend?

Als ich nach dem Ja zur SVP-Masseneinwanderungsinitiative Autor Lukas Bärfuss zum Interview traf und auf die selbstmörderischen Tendenzen ansprach, die dem Land seit dem
9. Februar diagnostiziert werden, sagte er: «Man kann es [das Ja zur Initiative] auch umgekehrt sehen: als Ausdruck der Sehnsucht nach Lebendigkeit, dass endlich etwas passiert, auch wenn man nicht weiss, wohin das führt.»

Ich liege in meinem Bett, der Fernseher läuft und ich sehe auf «Tele Züri» die Bilder von vollbelegten Zeltplätzen im Mittelland, von Stadtzürchern geflutet, die von der Natur vertrieben wurden. Sehe vollbesetzte, im Hauptbahnhof Zürich abfahrende Züge, bei denen «die Gepäckwagen überquellen von Koffern und zugeschnürten Säcken, während in den einfahrenden Zügen kaum noch jemand ankommt». Ich sehe die Autobahneinfahrten nach Zürich, «unter meterdickem Grün begraben». Dann erscheint Moderator Markus Gilli auf dem Bildschirm und begrüsst im «Talk täglich» den Forstwart, der den Krisenstab der Stadtbehörden auf die Idee gebracht hat, wie sie ein Rudel Wölfe in die Falle locken und töten konnten. In den letzten Tagen habe der Forstwirt «Hunderte von Telegrammen und Anrufen mit Gratulationen» erhalten, «es gab eine Freinacht, und in vielen Restaurants wurde gratis Bier ausgeschenkt», sagt Gilli, bevor er zur ersten Frage ansetzt: «Herr Forstwart, Sie sind de Held vo Züri, de Retter vo de Zivilisation! Säged! Sie! euserne! Zuschauerinne! und Zuschauer! Wie sind Sie uf die glorrich! Idee cho?» Dann wird der Bildschirm schwarz.

Als ich wieder aufwache, liegt Franz Hohlers Erzählband auf meiner Brust, die Herzensdame neben mir, und wie ich schlaftrunken zum Handy greife, glaube ich auf dem Display die Breaking News zu lesen: Ecopop abgelehnt.

 

Die Rückeroberung. In: Erzählungen. Darmstadt: Luchterhand, 1982.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!