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Jürg Halter: «Erwachen im 21. Jahrhundert»

Jürg Halter:
«Erwachen im 21. Jahrhundert»

  


Kaspar will wissen, weshalb er «ist, wie er ist, in dieser Welt». Dafür muss er die Zusammenhänge verstehen, in denen er lebt, und so denkt er während einer Nacht – in einem «immer schneller drehenden Karussell des Bewusstseins» – über den Zustand der Welt nach. Kaspar ist 35 Jahre alt, Schweizer, und hat «in seinem Leben bislang keine einzige wichtige Entscheidung getroffen». Am Ende der Nacht wird er sich aufmachen, um gemeinsam mit «den Anderen» die Welt endlich zu verändern: «Das Leben aufschieben, um den Tod zu verdrängen, das will ich nicht mehr.»

Jürg Halter verdichtet Kaspars Gedanken in dieser Nacht sprachmächtig und scharfsinnig zu einem umfassenden Gesellschaftsporträt. Seine Bilder sind skurril und entlarvend, phantastisch und realistisch. Kaspar, der sich als Menschen beschreibt, dem die Welt von Kindheit an zunehmend fremd geworden ist, erzählt von seinen existenziellen Ängsten und seinen Gedanken zu Geschichte, Politik und Kultur: Es geht um die Folgen und Funktionen des Kapitalismus, den Literaturbetrieb, die Digitalisierung, Geflüchtete, Demokratie, Freiheit und Glaube: «Wie können wir den Humanismus retten?»; «Wie begründet man eine Gegenreligion zum Wachstum?».

Kaspar weiss, dass er als Einzelkämpfer gegen die Welt nicht ankommt. Deshalb sieht er erwartungsvoll dem Treffen in Brest entgegen, wo er «die Anderen» trifft und vielleicht sogar Josephine, die ihm abhandengekommen ist, der einzige Mensch in seinem Leben, von dem er sich wirklich verstanden fühlte. Und daran zeigt sich, was auch an anderer Stelle deutlich wird: dass Kaspar sich noch nicht sehr weit entfernt hat von den Rollenspielen seiner Kindheit, in denen ihm stets klar war, wer die Guten und wer die Bösen sind. Er ist ein Pubertierender in einer infantilisierten Gesellschaft. Denn der Glaube, dass Trost und Heilung nur ausserhalb des Alltäglichen zu finden seien, bezeugt gerade den Geist, den diese verantwortungsscheue Gesellschaft erst hervorgebracht hat: sich nicht zugehörig zu fühlen, wo die zugewandte Auseinandersetzung zu schwer wird. So wird eine Frau, die Kaspar seit Jahren nicht gesehen hat, zur Projektionsfläche für seine Sehnsucht nach Verständnis und «die Anderen» werden endlich alles richten – wo liesse sich eine Revolution besser beginnen als in Frankreich? Als «Symbolakte» bezeichnet Kaspar die Möglichkeiten, die ein einzelner im Kampf um die Freiheit habe, und traut dabei seinen Mitmenschen längst nichts mehr zu.

Wenn es Halter in seinem Roman darum geht, all seine Gedanken zum Zustand der Welt in einem Buch zu kondensieren, dann ist ihm das nur bedingt gelungen. Seine Sprachspiele schieben sich allzu oft vor den politischen Ernst des Beschriebenen und Kaspars Selbstbespiegelung macht einen differenzierten Überblick unmöglich. Als kluges Psychogramm eines jungen Menschen, der so vieles erkennt und dennoch keinen eigenen Weg findet, mit all dem umzugehen – eines modernen jungen Mannes –, ist das Buch lesenswert.

Jürg Halter: Erwachen im 21. Jahrhundert. Basel: Zytglogge-Verlag, 2018. 

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