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Stephan Mathys:  «Vor dem Fenster»

Stephan Mathys:
«Vor dem Fenster»

Stephan Mathys hat uns ein wunderbares Buch über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Lebens und über die Vorstellungskraft der Literatur geschenkt.

Stephan Mathys ist bislang vor allem als Autor von Hörspielen, Theaterstücken und kürzeren Prosatexten an die literarische Öffentlichkeit getreten. Mit dem Erzählband «Vor dem Fenster» legt er nun sein erstes umfangreicheres Buch vor und erweist sich darin als Meister der kleinen Prosaform. Geschickt verknüpft Mathys die Figuren von dreissig Geschichten miteinander, lässt sie wiederholt in verschiedenen Lebensphasen und aus unterschiedlichen Perspektiven auftreten.

Mit präzisem, poetischem Blick für die kleinen Dinge des Alltags und die Verwicklungen zwischenmenschlicher Beziehungen präsentiert er mittels der dialogischen Kunst des Hörspiel- und Theaterautors Erzähl-Szenen eines grossen Schau-Spiels und verwischt dabei die «Grenze zwischen dem richtigen Leben und dem Mitmachen in einem Stück, das vorgegeben ist», wie es in einer der Geschichten heisst. «Ich bin ein Schauspieler, und die Stadt ist meine Bühne, aber ich weiss nicht, wie das Stück heisst», beschreibt der Maler Antonio in diesem Rahmen seine Suche nach Identität. Mathys zeigt Menschen, die ihr Leben als eine «Komödie» erfahren, «die keinen zum Lachen bringt», die «verkehrt» (spiegelbildlich) lesen und schreiben, aus der alltäglichen Ordnung geraten, Unmöglichkeiten erproben, den Tod «erleben», in virtuelle Welten aufbrechen und künstlerische Realitäten erschaffen, getrieben von unbestimmten Sehnsüchten. «Ich möchte wissen, weshalb etwas möglich ist, etwas anderes aber nicht», bekundet ein Spaziergangsbegleiter dem Ich-Erzähler, worauf dieser gesteht: «Eigentlich bin ich froh, dass nicht alles möglich ist […]. Weil es sonst keine Wunder gäbe.» «Tatsächlich» wird er dann aber Zeuge, wie sein Begleiter über das Wasser eines Flusses wandelt!

Zu Mathys’ raffiniertem Spiel mit der Fiktion zählt auch der Auftritt eines jungen Ich-Erzählers, der in einem Alters- und Pflegeheim arbeitet und Geschichten schreibt und der sich dabei als Autor zweier weiterer Erzählungen des Bandes offenbart: «Esskünstler», gewissermassen eine «Gegengeschichte» zu Kafkas berühmtem «Hungerkünstler», und «Zweifamilienhaus», das vom Versinken eines alten, maroden Gebäudes erzählt. Dessen Wände werden vom Grossvater der im Haus wohnenden Familie bemalt. Es sind farbenprächtige, phantasieanregende Bilder seines Lebens, die seinen ich-erzählenden Enkel eine «fiktive Realität» erleben lassen, das Haus aber offensichtlich derart belasten, dass es am Ende zusammenbricht. – So müssen die Akteure in Mathys’ Geschichten immer wieder desillusioniert erkennen: «Man stellt sich sein Leben vor, hat seine kleinen und grossen Träume, und man sieht die Wirklichkeit, die ganz anders ist.»

Stephan Mathys hat uns ein wunderbares Buch über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Lebens und über die Vorstellungskraft der Literatur geschenkt.

Stephan Mathys: Vor dem Fenster. Zürich: edition 8, 2018. 

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