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Killer kapitaler Klischees

Leo Tuor:
Cavrein.
Zürich: Limmat, 2014.

Es ist wieder Zeit, mit Leo Tuor auf die Jagd zu gehen. Vor ein paar Jahren hat er mit «Settembrini» ein selbstbewusstes, leidenschaftliches Buch vorgelegt, das die Männer, die Jagd, das Töten,
die Tradition, das Umherstreifen durch nasses Gras an kalten Morgen, die Stille nach dem Schuss und das Getöse unter ausgekochten Trophäen in einer Widersprüchlichkeit beschreibt, dass ihn jeder Jäger für diesen Verrat an geheimen Gefühlen innig hasst oder liebt, die meisten beides. Die Jäger in «Settem-brini» pirschen sich durch abschüssiges Gelände und die Weltliteratur. Sie verachten die Regeln, aber auch jene, die ihr Metier nicht beherrschen. Belesene Anarchisten im Unterholz, die meinen, zur Jagd sei schon längst alles gesagt – und doch nicht aufhören können, Geschichten zu erzählen. Für dieses Buch ist Leo Tuor zum Jäger geworden, hat die Jagdprüfung abgelegt. Man merkt «Settembrini» an, dass sein Autor ganz genau wissen will, wovon er schreibt. Und nun ist «Cavrein» erschienen. Es geht wieder um die Jagd und doch ist alles anders. «Settembrini» war ein Buch, das alles wollte und alles geschafft hat. Es fasst die Fülle, die Komplexität, die Geschichte und die Gegenwart, den Sinn und die Lächerlichkeit in der für Tuor typisch fragmentarischen Erzählweise. Im nicht Ausgesprochen-en noch beredter. Aus assoziativen Nebeln tritt ein präzises Gesamtbild hervor. Doch der Nachfolger «Cavrein» ist ein Kristall. Klare, konzentrierte Schönheit, linear aufgebaut. Geschrieben im vollen Vertrauen auf die symbolgeladene Beute.

Diesmal gehen sie auf die Steinbockjagd. Sie suchen ihr Wappentier zu erlegen, die stolze Männlichkeit mit dem rot eingefärbten Gemächt, oder dem verschrumpelten oder gar keinem, je nach Darstellung. Dieses Tier, dieser Tutanchamun mit dem Riesenhorn, der auf der falschen Seite des Bergs bei den Urnern seine Majestät verliert und am Nasenring geführt wird, ihm steigen sie nach, schleichen über Felsbänder mit dem Gewehr im Rucksack, einem Stück Speck und ihrem Wittgenstein, Dante, Malaparte und Plinius. Bis sie dem Steinbock gegenüberstehen, der ohne mit der Wimper zu zucken in den Lauf seines Mörders blickt. Diesmal lässt Tuor nichts offen. Er formuliert die Warterei aus. Beinahe wie ein Chronist beschreibt er die Wetterwechsel in den Gemütern und den wilden Hochtälern des Klosters Disentis. Hier lauern sie sich selbst auf, sitzen im zurückgelassenen Gerümpel der Alphütten und schimpfen auf den Kanton, schmucke Jagdaufzüge  und die Hansheinis mit ihrer kapitalen Fixierung. Es passiert lange nichts, dann geht alles sehr schnell. Und dieses herrliche Buch ist vorbei.

«Cavrein» ist frei und leicht, pointierter, satirischer, doch nicht weniger poetisch als sein Vorgänger. Der neue Übersetzer Claudio Spescha hat wie sein Vorgänger Peter Egloff  für Tuors Rätoromanisch ein Deutsch gefunden, das man am liebsten laut lesen möchte. Voller Melodik. Die Fussstapfen seien gross gewesen, erzählt er mir am Telefon. Da waren zum einen die grossartigen Übersetzungen der ersten drei Romane, zum anderen ein Autor, der ihm über die Schulter blickt im Wissen, dass er viele Lesungen halten wird in dieser Sprache, die nicht seine literarische ist. Einiges ist nicht übertragbar – das Gesprochene der Leute, die eingeschlichenen Germanismen – doch was wir durch Claudio Spescha erhalten, ist ein Deutsch, in dem das Rätoromanische klingen kann. Ebenfalls viel zu wenig gelobt werden für meinen Geschmack die achtsamen Buchgestalter. Ihr Anteil an der Freude, die eben nur das gedruckte Buch bereiten kann, ist beträchtlich und sollte viel öfter verdammt oder gerühmt werden. «Cavrein» ist ein Genuss vom ersten Moment an. Danke, Trix Krebs. Es sieht gut aus – klassisch abgesetzt, hier nicht in Schwarz, sondern in dezenter Farbe – liegt wunderbar in der Hand und riecht gut. Ich glaube, ich lese es gleich noch einmal.

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