Literarischer Monat #36
Liebe Leserinnen und Leser
Warum wird’s eigentlich so oft so peinlich, wenn’s in der Literatur explizit wird – sei’s vor lauter schiefen Methaphern, sei’s im unbeholfenen Versuch, nichts zu verstecken? Sind die Tasten (oder vielmehr: die Sprachvirtuosen dahinter) bei diesem urmenschlichen Thema auf einmal verklemmt? Oder sind es gar die Verleger, die Kritik – wie es die Erfahrungen von Corinna T. Sievers am letztjährigen Bachmann-Wettbewerb nahelegen?
Wir widmen Sex und Sinnlichkeit den Schwerpunkt dieser Ausgabe. Werner Fuld macht historische Gründe aus, wieso die Erotik in der Literatur vor allem im deutschen Sprachraum einen schweren Stand hat. Aber auch anderswo scheint das Problem virulent; nicht umsonst verleiht die «Literary Review» seit 1993 ihren «Bad Sex in Fiction Award» für «outstandingly bad scene[s] of sexual description». Die Nominiertenliste liest sich wie ein Stelldichein der ganz Grossen.
Ginge es anders? Rund 800 Wörter für Penis und 600 für Vagina nennt das Kompendium «éros, indéfiniment» allein im Französischen (hier unser Besuch bei den Lausanner Herausgebern). Und Marcel Mariens Gedicht «Le paysan du tendre» besteht aus nicht weniger als 378 Variationen des Satzes «Ich liebkose dich». Die Sprache böte offenbar – ohne behaupten zu wollen, Erotik sei nur Penis, Vulva und etwas Streicheln! – genug Möglichkeiten, ein Fest der Sinnlichkeit zu entfachen. Die Gefahren dabei zeigt der Übersetzer Ulrich Blumenbach. Ist die Sexszene also – weil so schwierig, so schambesetzt – die heimliche Königsdisziplin der Literatur, wie Christoph Braendle nahelegt? In dieser Nummer klären wir Sie auf!
Bereits zum fünften Mal präsentieren wir in diesem Heft die Gewinner der «Schweizer Literaturpreise» und ihre Werke. Mittlerweile gute Tradition ist auch der begleitende Online-Schwerpunkt, zu dem die Preisträger exklusiv bisher unveröffentlichte Texte beigesteuert haben. Frohes Entdecken!
Mit Freude darf ich Ihnen schliesslich unsere neue Kolumnistin vorstellen: Mireille Zindel sieht sich – wie jede Schriftstellerin – der Herausforderung «Selbstvermarktung» gegenüber, will sie im Aufmerksamkeitswettbewerb nicht untergehen. Aber wie macht frau das, wenn sich «schreiben» nur schwer zeigen lässt? Zindel ist bekennende Social-Media-Anfängerin – in ihrer Kolumne «auffallen und weghören» erleben wir sie beim Ausprobieren – und sind sicher: Ihre Erkenntnisse nützen allen Kolleginnen und Kollegen, die vor ähnlichen Aufgaben stehen.
Gute Lektüre!