Von Champéry nach Salvan
Frühnachmittags lese ich einen Artikel über Managerseminare, in welchen vollkommen seriös mit Lego-Bausteinen gespielt wird.
Frühnachmittags, in einem durchs südwestliche Wallis schnurrenden Schmalspurzug, lese ich einen Artikel über Managerseminare, in welchen, um das Kommunizieren und gedankliche Abstrahieren zu üben, vollkommen seriös mit Lego-Bausteinen gespielt wird. Verblüfft lege ich die Zeitung weg und bewundere die sich ans Fenster drängende Bergwelt.
Kaum setze ich an der Endstation Champéry einen Fuss auf den Asphalt, schieben sich Nebelwände vor die Gipfel, denen ich mich wandernd nähern möchte. Es bleiben mir fünf Stunden Tageslicht, die Karte verzeichnet gefährliche Felsbänder; ich weiss nicht, ob das eine gute Idee war mit dieser zweitägigen Bergwanderung.
Im steil ansteigenden Wald versperrt mir ein rotweisses Band den Weg; ein Schild spricht von fallenden Bäumen. Der ne-belsatte Wald, die bleischwere Stille, die vielleicht trotz der schweigenden Motorsägen niederkrachenden Baumriesen: Alles erzählt von einem knochenkalten Unheil.
Später vernehme ich ein aufgeregtes Bimmeln: Auftauchend aus dem Nebelnichts steht ein Schaf mit zwei zuckersüssen Lämmern vor mir. Ratsuchend schauen mich die Tiere an. Ratsuchend schaue ich zurück.
Ein Blick auf die Karte lässt mich an einer Verzweigung dem oberen Weg folgen. Ein müder Stein markiert noch einmal farbenschwach den Pfad, dann verliert sich alles, und schliesslich stehe ich an einem hüfthohen Schafszaun wie der Esel am Berg.
Sterben nicht die meisten, die in den Bergen ihr Leben lassen, weil sie einem sturen Ehrgeiz folgen? Was will ich mir beweisen? Dass ich dumm genug bin, Strapazen auf mich zu nehmen? Dass ich zu unruhig bin, den Tag im Zimmer zu verbringen?
Die ersten Strahlen erwischen mich ohrfeigenhart. Die enge, nebelgraue Welt ist unvermittelt ersetzt durch eine sonnen-scheindurchflutete Weite; hundert Meter unter mir glänzt der Wanderweg verlockend mit hellen Steinen. Motivation fährt mir ins Blut: Die steilen Felsbänder passiere ich mit links, locker hangle ich mich etlichen Ketten entlang, vierhundert Meter über dem Abgrund.
Als wäre ich eine Solarzelle, treibt mich das Licht in die Höhe, über die Baumgrenze hinaus.
Susanfe, ein in herbstliche Stille gebettetes Hochtal, durchschreite ich schwebend, und noch ehe sich die Sonne in den gezähnten Horizont fallen lässt, stehe ich auf dem gleichnamigen Col. Hier drückt mir ein sturmstarker Föhnwind die Tränen aus den Augen, und ehe es zu stark dämmert, mache ich mich an den Abstieg.
Das mich auf der anderen Seite erwartende Tal, es heisst Salanfe, ist nicht viel mehr als ein von einzelnen Bäumen bestandenes Geröllfeld. Eine dunkle Nacht zieht auf, der Mond streikt, die Stirnlampe liegt zu Hause in der Schublade; ich bewege mich, einen Schlafplatz suchend, auf allen vieren, halb sehend, halb tastend. Endlich finde ich einen Felsquader, dessen Oberseite Doppelbettformat aufweist. Um eine ideale Liegefläche zu bauen, suche ich, erfasst von einer tiefengenetisch gespeisten Energie, tellergrosse, omelettenflache Steine.
Dicht an meinem Nachtlager wurzelt eine Lärche; Harz und Nadeln dieses Baumes sind bekannt dafür, Atembeschwerden zu heilen. Ich verzichte darauf, mir einen Zweig abzubrechen – das ist meine letzte Kolumne hier, Kräuter gerodet habe ich nun genug.
Als ich mich hinlege, erscheint mir das Legospiel der Manager peinlich verwandt mit dem soeben abgeschlossenen, manischen, mindestens genauso ernsthaft betriebenen Zusammenfügen von Steinen für meine Naturmatratze. Aber falls Steineschichten tatsächlich die Kommunikation fördert, verfüge ich nun womöglich über einen noch besseren Draht zu mir selbst.