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Brief aus der Romandie
(vingt-deux)

 

«Amiel & Co. Diaristes suisses» heisst die aktuelle Ausgabe 43 der Zeitschrift «Les Moments littéraires». Aber keine Sorge, es handelt sich nicht um Corona-Tagebücher; die Westschweizer Autorinnen und Autoren haben ihre Texte vor Ausbruch der Pandemie verfasst, manche sehr lange vorher: Henri-Frédéric Amiel (1821–1881) hinterliess ein 17 000seitiges «Journal intime», dessen erste, fragmentarische Ausgabe Tolstoi, Pessoa und Hofmannsthal beeinflusste und das später in ganzer Länge veröffentlicht wurde. In den ausgewählten Einträgen vom September 1869 lernt der 48jährige Professor die siebzehn Jahre jüngere Élisa Guédin kennen und tritt mit ihr in einen Briefwechsel, der trotz einiger Zerwürfnisse bis zu seinem Tod andauert. Von Amiel führt der alphabetische Reigen der Tagebuchschreiber bis zum Genfer Autor und Historiker Luc Weibel, dem Entdecker und (zusammen mit Gilbert Moreau) Herausgeber des Briefwechsels, den «Les Moments littéraires» parallel zur No 43 in einer Sonderausgabe präsentieren («Henri-Frédéric Amiel/Élisa Guédin. Cor­respondance 1869–1881»). Darin fasziniert vor allem Élisa Guédins eigenwilliger Lebensentwurf. Offen bezeichnet sie Amiel als Wunschkandidaten für eine Heirat – wenn sie sich nicht gegen die Ehe entschieden hätte.

Zurück zu den Tagebüchern: Neben Amiels Auszügen sind einzig diejenigen von C. F. Ramuz und Monique Saint-Hélier bereits erschienen, die anderen sind unveröffentlicht und stammen fast durchwegs von zeitgenössischen Autorinnen und Autoren. Einige, wie Noëlle Revaz oder Jérôme Meizoz, lassen sich beim Verfassen ihrer Werke in die Karten blicken, andere nehmen uns mit auf Reisen durch Raum und Zeit, wie Jean-Bernard Vuillème, dessen Notate während vierzig Jahren entstanden sind. Wie indiskret ist die Lektüre dieser Texte? – Élisa Guédin wollte, dass der Briefwechsel mit Amiel nach ihrem Tod ungelesen verbrannt würde. Die Tagebücher hingegen wurden von den meisten Schreibenden für die Publikation ausgewählt. Ist ihr «Ich», wie Jean-François Duval in seinem Vorwort fragt, nicht ohnehin eine fiktive Person? Und wie Jacques Mercanton 1974 notierte: «L’écrivain sait qu’en écrivant, il se découvre. Le lecteur ne songe jamais qu’il en fait autant dans sa lecture.»

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