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Daniel de Roulet: «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen»

Daniel de Roulet:
«Zehn unbekümmerte Anarchistinnen»

 

Rebellen und Freiheitskämpfer schreiben Geschichte und Geschichten. Nicht nur 2017 in Katalonien. Auch im Jahr 1872 im Industriestädtchen Saint-Imier im Berner Jura. Zusammen mit Freunden und örtlichen Uhrmachern gründet der russische Revolutionär und Philosoph Michail Alexandrowitsch Bakunin die Antiautoritäre Internationale. Die demokratische, von Monarchien umgebene Eidgenossenschaft als willkommener Zufluchtsort für Freigeister, Utopisten und Verfolgte.

Waren es die rigorosen Arbeitsbedingungen, die damals kaum durch soziale Massnahmen abgefedert wurden, die in der jurassischen Kleinstadt extremistische Tendenzen keimen liessen? De Roulet zeichnet eine Bevölkerung, die gänzlich vom technologischen Fortschrittsglauben beseelt ist. Dank der neuen Eisenbahnlinie ist Genf innerhalb einer Tagesreise erreichbar. Doch der innovative Ort ist konjunkturellen Schwankungen unterworfen. Wie aus dem Nichts stehen die Menschen ohne Arbeit da. Es grassieren Trunksucht, Absinthrausch und Ungleichheit.

Valentine, Colette und Germaine schwebt ein Leben vor, wie es der französische Philosoph Pierre-Joseph Proudhon in seinen Schriften skizzierte. Ohne soziale Klassen, ohne Staat, Autoritäten und Privateigentum – eine ideale Gesellschaft, in der Frieden herrscht und in der sich die Menschen zu Genossen- und Gewerkschaften vereinen. Den jungen Frauen kommt zu Ohren, dass man in Übersee sein Glück machen könne. «Was hatten wir schon zu erwarten, wenn wir im Tal blieben? Im Morgengrauen in die Fabrik, nach elf Stunden wieder nach Hause, den Rücken von der Werkbank gekrümmt, mit schmerzenden Augen und Kopfweh, schlecht bezahlt, und am nächsten Tag alles wieder von vorne.» Der Entschluss – sie fahren nach Patagonien. Von den Männern als Abenteurerinnen, Utopistinnen und kleine Anarchistinnen belächelt – tant pis. Ihr Ziel: der Aufbau einer Kommune nach Pariser Vorbild.

In de Roulets Auswanderungsroman oszillierte ich als Leser zwischen absorbiertem, ergriffenem Lesen und eklatanten Aufmerksamkeitsdefiziten. Die zehn Erzählerinnen porträtieren eine Schweiz, die man sich heute kaum mehr vorzustellen vermag: ein Land, aus dem man so schnell als möglich verschwinden möchte. Karg, finster und arm – und brodelnd vor revolutionären Ideen. Spannungsgeladener Stoff ist gegeben. Da ist es schade, dass der Erzählton eher einem Rapport gleicht. Weil sich de Roulet gerne auf Nebenschauplätzen verliert, ist man schnell verführt, Abkürzungen zu wählen. Einen ungewohnten Einblick gibt das Werk ins Spannungsfeld der damaligen politischen Strömungen Anarchismus, Sozialismus und Demokratiebestrebungen, jedoch fehlt es an atmosphärischer Bildhaftigkeit. Aber dieser Mut zur Veränderung und dieser Lebenswille der jungen Frauen, der aus den Buchstaben hervorquillt! Ihr Pioniergeist! Ihr Idealismus! Das ist ein Erlebnis.

Daniel de Roulet: Zehn unbekümmerte Anarchistinnen (aus dem Französischen übersetzt von Maria Hoffmann-Dartvelle). Zürich: Limmat, 2017.

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