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Lukas Linder, zvg.

Der Bachelor vom Greifensee

Refresh Keller #7

«Willst du eigentlich ewig alleine bleiben?»

Es war eine Frage, die man eigentlich nicht beantworten konnte, darum schwieg Winfried einfach rätselhaft, genauso wie damals, als die Mutter ihn gefragt hatte, ob er vorhätte, in der Gosse zu enden.

Andere Mütter fragten ihre Söhne, ob sie schon gegessen hätten oder wie es auf der Arbeit gehe. Doch diese Fragen waren für seine Mutter viel zu banal. Sie musste immer ans Limit gehen, sonst war ihr das Gespräch zu fad.

Sie sass im Wohnzimmer auf der Couch und schaute sich relativ begeisterungslos «The Bachelor» an, eine Sendung, deren ästhetische Grundidee darin zu bestehen schien, dass alle Beteiligten einen starken Sonnenbrand hatten. Der Ton des Fernsehers war sehr laut aufgedreht, was das Gespräch mit der Mutter zusätzlich erschwerte. Es war jedoch nicht so, dass sie nicht mehr so gut hörte. Sie genoss es einfach, wenn andere sich um sie bemühen mussten.

«Da», rief sie und zeigte auf den Bildschirm, wo der Bachelor gerade dabei war, eine der Kandidatinnen auf einem Strandbett zu massieren. Es klang so, als wolle sie ihm sagen: Pass auf, das hier ist lehrreich. Winfried schaute pflichtbewusst hin. Man wusste ja nie: Da lebte man so trüb vor sich hin und plötzlich befand man sich an einem Strand und massierte eine Frau mit enormem Sonnenbrand. Wahrscheinlich war das der Moment, wo man spürte, wie die ewige Einsamkeit allmählich von einem abblätterte, wie tote Haut nach einem deftigen Sonnenbrand. Winfried hatte in seinem Leben schon ein paar Frauen massiert und dabei nie den Eindruck gehabt, als würde sich dadurch an dem Gefühl der Einsamkeit etwas Grundsätzliches ändern. Doch wie der Bachelor gerade gesagt hatte, war wohl alles eine Frage der Technik.

«Diese Saison sind wieder sehr viele Menschen im Meer ertrunken», informierte seine Mutter, die offenbar auch nicht ganz überzeugt war vom Bachelor und seinen besonderen Massagekniffs.

Dann kam Werbung und Winfried ging auf sein Zimmer.

In seinem alten Kinderzimmer sah es noch genauso aus wie früher. Weniger aus Nostalgie, sondern aus purer Ratlosigkeit. Und so fand er die Sparkasse sofort. Er hatte sie zum fünften Geburtstag von seinem Grossvater erhalten, einem strengen Mann mit kalten Augen, der in seinem ganzen Leben kaum zehn Worte zu Winfried gesagt hatte. Nur einmal fuhr so etwas wie Enkelwärme in ihn hinein, nämlich als er Winfried das Prinzip der Sparkasse erklärte. Er nahm einen 10-Franken-Schein in die Hand und legte ihn in die Kasse, die er daraufhin verschloss. Immer wieder wiederholte er diesen Vorgang, was bedeuten konnte, dass er die intellektuellen Fähigkeiten eines Fünfjährigen sträflich unterschätzte oder aber bereits vollkommen senil war. Kurz darauf starb er. An der Beerdigung musste Winfried daran denken, wie er den Geldschein in die Kasse gelegt und wieder herausgenommen hatte. Und nun lag der Grossvater selber in so einem Sarg und keiner nahm ihn mehr heraus.

Er sass auf seinem alten Kinderbett, die giftgrüne Sparkasse neben sich. Bereits hatte er sie geöffnet und festgestellt, dass sie keinerlei Geld beinhaltet. Er musste sie zu einem früheren Zeitpunkt bereits geplündert haben. Tatsächlich kam ihm nun wieder in den Sinn, wie er den ganzen Inhalt an sich genommen hatte, um mit seiner damaligen Freundin Angelika übers Wochenende in ein Luxushotel zu fahren. Es handelte sich um ein Winter-Wellness-Angebot, zu dem auch eine geführte Kneipptour gehörte. Wie er sich später immer wieder sagte, hatte diese geführte Kneipptour ihrer Beziehung dann noch den Rest gegeben.

«Du bist so ein verdammtes Arschloch», brüllte ihn Angelika mitten während der Tour an.

Die anderen Kneipptour-Teilnehmer schwiegen betreten, während Winfried den Fehler machte und in seiner Wut versuchte, Angelika in den Hintern zu treten. Er stürzte auf die Knie und versuchte dann von dort aus, die scheidende Freundin in den Hintern zu beissen.

«Ich habe die Kontrolle verloren», sagte er später am Abend zu ihr. Aber das half dann auch nicht mehr viel.

Rückblickend wäre es vielleicht besser gewesen, wenn sie statt auf die Kneipptour irgendwo ans Meer gefahren wären, wo er sie auf einem Strandbett stundenlang hätte massieren können. Oft scheiterten Beziehungen ja einzig daran, dass man sich für die falsche Feriendestination entschied.

Am nächsten Morgen sass er alleine am Frühstückstisch. Angelika war bereits abgereist. Unter den Hotelgästen hatte sich seine Entgleisung bereits herumgesprochen und er sah, wie sie sich an die Stirn tippten oder pantomimisch darstellten, wie sie in ein Hinterteil bissen.

Und so hatte er seine Ersparnisse aufgebraucht.

Die Kasse war jedoch nicht leer. Und das war das eigentlich Überraschende. Denn auf dem Grund fand er einen ganzen Stapel kleiner, einschlägiger Fotos, fein säuberlich ausgeschnitten und mit der Leidenschaft des wahren Sammlers aufbewahrt. Nacktfotos, selbstverständlich. Die Quelle waren Sexhefte, wobei, wenn er sich richtig erinnerte, das Magazin «Der Busenfreund» zu den Hauptlieferanten gehört hatte. Das Spezielle an den Bildern war nun, dass sie nicht einfach nur ausgeschnitten und aufbewahrt worden waren, nein, offensichtlich war der junge Winfried ein Sammler von besonderem Ehrgeiz gewesen. Denn die Fotos waren nicht eigentlich Fotos, es waren vielmehr Collagen. Bei den Gesichtern erkannte man die aufgeklebten Konterfeis der örtlichen Frauenvolleyballmannschaft, zu dessen Team Winfrieds Mutter einige Jahre gehört hatte. Die Mutter selber befand sich nicht in der Sammlung. Dafür Frau Schneider, die XXL-Silikon-Brüste fest in der Hand, Frau Brigger, mit dem Knackarsch dem Betrachter regelrecht entgegenwinkend, oder Frau Zurbriggen, die einen kleinen Krimskramsladen führte, wo sie alles für den täglichen Handarbeitsbedarf verkaufte, in einschlägiger Pose eingeklemmt zwischen gleich zwei heftig erigierten Penissen.

Er war kein begabter Handwerker, war es nie gewesen, und das sah man den Bildern auch an. Die Proportionen stimmten nicht. Damals hatte es ihn jedoch überhaupt nicht gestört, ja es war ihm noch nicht einmal aufgefallen, dass Frau Schneiders Kopf höchstens halb so gross war wie ihre linke Brust. Der Kopf von Frau Zurbriggen wiederum war so riesig, dass die erigierten Penisse rechts und links davon wie Streichhölzer aussahen, die ihr gerade gereicht wurden. Da erst kam ihm in den Sinn, dass eben diese Frau Zurbriggen vor ungefähr zehn Jahren an einem Gehirntumor gestorben war. Und Frau Brigger, die Frau mit dem winkenden Knackarsch, hatte einen Autounfall gehabt, an dessen Folgen sie gestorben war. Insgesamt drei Personen fand er in seiner Sammlung, die mittlerweile nicht mehr lebten. Vielleicht waren es auch mehr, er kannte nicht alle Geschichten.

Da lagen sie alle vor ihm, seine ganze Sammlung, und schauten ihn an, die Lebenden und die Toten, aber vor allem die Toten. Mit ihren nackten, falschen Silikonkörpern machten sie alle den Eindruck, als hätten sie sich verirrt, als wären sie vollkommen verloren und ganz und gar allein.

Eine nach der anderen legte er sie zurück. Dann schloss er die Kasse. Er ahnte, dass er sie nicht wieder herausnehmen würde.

Im Wohnzimmer hatte sich die Mutter unterdessen eine Schale gesalzener Nüsse aus der Küche geholt, die sie gierig verschlang, während der Bachelor Rosen an seine Lieblingsfrauen verteilte. Die Mutter prahlte immer damit, dass sie sich nur von Früchten und Gemüse ernährte, doch kaum drehte man ihr den Rücken zu, da fing sie auch schon wie besessen zu naschen an.

Winfried setzte sich. Eine Weile lang war nichts als das Knuspern der Mutter zu hören, das alles und sogar den Bachelor übertönte. Die ganze Welt, so schien es, verneigte sich verschämt vor diesem mütterlichen Erdnussknuspern.

«Brauchst du Geld», fragte sie schliesslich, ohne ihn anzuschauen.

«Nein», sagte Winfried.

Die Mutter seufzte.

«Willst du etwa in der Gosse enden?»

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