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Monica Cantieni:
«Grünschnabel»

 

Dass Kindermünder Wahrheiten verkünden, weiss der Volksmund schon seit geraumer Zeit. Die Literatur jedoch scheint diese Weisheit gerade neu zu entdecken – und bringt reihenweise Werke hervor, in denen Kinder mit grossen Augen auf die Welt der Erwachsenen blicken und mit offenen Mündern von den Absonderlichkeiten berichten, die sie darin entdecken. Bietet die Kinderperspektive einerseits den Vorzug, all das zu hinterfragen, was man gemeinhin fraglos als Normalität hinnimmt, so birgt sie andererseits die Gefahr, komplexe Sachverhalte auf blumige Sentimentalitäten zu reduzieren.

Monica Cantieni gelingt es in ihrem Erstlingsroman «Grünschnabel», den Kinderblick zu nutzen und die Simplifizierungsfalle zu umgehen, indem sie eine überzeugende inhaltlich-formale Kongruenz schafft: Ihre kindliche Ich-Erzählerin thematisiert die eigene Sprache. Der Leser begleitet das namenlose Mädchen auf seinem Weg vom Waisenhaus in eine schrullige Adoptivfamilie und beobachtet, wie ihm die Sprache als Schlüssel zu seiner neuen Welt dient: Der Grünschnabel beginnt, Wörter zu sammeln und in Streichholzschachteln abzulegen, um sein neues Dasein fassbar zu ordnen.

Diesen Prozess des Welterwerbs gestaltet die Autorin zwar mit pointierter Komik, gleichzeitig aber legt der naive, aufs Konkrete gerichtete Sprachgebrauch des Kindes den Finger auch auf Ungeheuerlichkeiten, von denen sich der routinierte Sprachbenutzer durch abstrakte Begriffe zu distanzieren gewöhnt hat – Beispiel «Überfremdung». Das Einleben in der Fremde ist nämlich nicht nur Grünschnabels Thema, sondern zentrales Motiv ihrer neuen Umgebung: Von Saisonniers bewohnt, verleiht das Haus, in das die Waise in den 1970er Jahren zieht, der Geschichte einen veritablen Migrationshintergrund. Hier trägt die Diskussion um Schwarzenbachsche Prozente ein menschliches Antlitz. Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kommen Eli, der Spanier, der «untertaucht» und tropfnass in Grünschnabels Traum erscheint, und Toni, der Italiener, der seine Tochter im Kleiderschrank versteckt, wo Grünschnabel sie als «nette Überfremdung» findet und mit Wörtern versorgt.

«Fremdsein» scheint in der Schweiz zwar buchpreisverdächtig, einzigartig ist «Grünschnabel» aber weder inhaltlich (man denke an Abonji) noch stilistisch (man lese Ćosić), und natürlich ist dem Leser zu jeder Zeit klar, dass der lakonische Witz des Buches keinem Kindermund, sondern der Feder einer ausgewachsenen Sprachvirtuosin entsprang. Nichtsdestotrotz führt die kluge Komposition zu einem Text, der mit feiner Melancholie den Alltag poetisiert und den Blick für Reichtum und Macht der Sprache schärft.

Monica Cantieni: Grünschnabel. Frankfurt am Main: Schöffling, 2011.

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