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Die Orangenwahrheit

«Wenn wir aufhören, uns zu übersetzen, hören wir auf, uns zu verstehen, und dann hören wir auf, miteinander zu leben», schrieb einst Karl Dedecius. Welche Rolle spielen Übersetzungen für das Entstehen einer gemeinsamen Kultur in der vielsprachigen Schweiz?

Mendrisio. Unlängst beim Einkaufen prangte mitten im Gang ein Schild mit der Einladung «Schwein in Aktion». Der Gedankengang der beiden Typen vor mir, anscheinend überrascht und mitnichten Schweizer, hatte nichts mit Sonder­angebot und Rabatt zu tun. Vielmehr stellten sie sich offensichtlich vor, was auf dem Schild stand: Ein quicklebendiges Schwein, das in emsiger Betriebsamkeit durch die Gänge galoppiert. Sie mimten auch ein Schwein im Hinterhalt und stimmten dazu das Motiv von «Mission: Impossible» an. Ich schob meinen Wagen weiter, doch das Konzept der Über­setzung liess mich nicht los, schwirrte und kreiste auf der Suche nach dem Kopf oder dem Schwanz der Sprache in der Sprache herum.

Dass Ausdrücke einer Sprache in eine andere übernommen werden, ist – gerade in der Schweiz – bekannt oder gar ein alter Hut. Hinzu kommt jedoch, dass wir über das reden, was wir sind und worin wir sind. Als Trägerin einer bestimmten Wahrnehmung der greifbaren Wirklichkeit unterscheidet sich jede Sprache von den Sprachen anderer sprachlicher und kultureller Gemeinschaften. Unser Idiom prägt uns, doch wir bändigen es, bis es sich uns angleicht. Auf der Basis einer freien, kollektiven, auf Doppeldeutigkeiten und Entsprechungen beruhenden Suche lenken wir die Sprache so, dass wir uns einander an­gleichen. Wir gestalten sie um und werden gestaltet.

Während ich durch die Papeterieabteilung ging, dachte ich an Borges’ «Wortschöpfer»: «Jemand nimmt sich vor, die Welt zu zeichnen. Im Lauf der Jahre bevölkert er einen Raum mit Bildern von Provinzen, Königreichen, Gebirgen, Buchten, Schiffen, Inseln, Fischen, Zimmern, Instrumenten, Gestirnen, Pferden und Menschen. Kurz bevor er stirbt, entdeckt er, dass dieses geduldige Labyrinth aus Linien das Bild seines eigenen Gesichts wiedergibt.»1 Dann fällt mir (vielleicht beeinflusst durch die grossformatige Alpenlandschaft in der Abteilung Milchprodukte) noch etwas ein: 1645 zeichnete Madame de Scudéry eine «Landkarte des Reiches der Liebe» als Illus­tration zu ihrem Roman «Clelia, eine römische Geschichte»2. Eine bildliche Darstellung der inneren Landschaft, eine «Geografie des Herzens», in der Gefühle und Emotionen als Länder, Ebenen, Flüsse, Seen, Meere, Inseln und Gebirge dargestellt werden. Jeder Mensch zeichnet ständig auf seine eigene Art und mit seinen eigenen Mitteln eine «Landkarte des Reiches der Liebe». Man bewohnt sein Reich aktiv und bearbeitet diesen Atlas der Emotionen als Geograph und Topograph während seines ganzen Lebens. Welche Formen der Gemeinschaft mit fremden Topographien sind möglich? Schon mit dem Kollegen und dem Nachbarn, mit dem Ehepartner (dem wir vielleicht seit einem Jahrzehnt nicht mehr zuhören und nur noch mit Brummen antworten) ist die Kommunikation schwierig. Doch was passiert, wenn es Topographien sind, die sich zu allem hinzu auch anderswo befinden, nicht nur ausserhalb unserer geographischen Grenzen, sondern auch ausserhalb der linguistischen? Sind wir dann noch les- und begreifbar?

Damit das so ist, «müssen die Sprachen über eine gemeinsame Intelligenz verfügen»3, oft halten wir uns aber an das berühmte «non verbum de verbo» statt an «sensum exprimere de sensu»4 (man solle sinngemäss übersetzen statt Wort für Wort) und nehmen uns dabei eine gewisse Freiheit – mit dem Resultat, dass der Kontaktpunkt zwischen zwei Sprachen sich oft in einer heiklen Balance zwischen Legitimität und Illegitimität befindet. Auch wenn sich die so erweiterte Sprache mit ihrer gemein­samen Intelligenz eigentlich an ihre eigene Ordnung halten möchte, wird das Regelsystem, das ihr effektives Funktionieren nicht minder stark bestimmt als die Textelemente, dennoch oft vernachlässigt. Beim Übersetzen unterlaufen uns grandiose Schnitzer, aber immerhin haben wir im Laufe der Jahrhunderte die Grundlagen dafür geschaffen, darüber lachen zu können. Das Wichtigste ist letztlich, dass wir uns, wie es der preussische Bildungsreformer Johann Ignaz von Felbiger ausdrückte, «alle zusammen auf einmal und zu gleicher Zeit»5 bewegen. Er reformierte im späten 18. Jahrhundert unter Maria Theresia von Österreich das Schulsystem, während wir Schweizer schon ganze vier Jahrhunderte davor angefangen hatten, alle zusammen zu trippeln: Seither sorgt es sogar innerhalb der Eidgenossenschaft für allgemeines Erstaunen, wie gut wir Hand in Hand gehen.

Während ich an der Kasse des Supermarktes meinen Wochen­einkauf bezahlte (darunter auch zwei Packungen «Schwein in Aktion» – das war ich ihm für die gelieferte Inspiration schuldig), wurde mir bewusst, dass Respekt vor der sprachlichen Vielfalt mehr als nur die Anerkennung einer von der Geschichte erzeugten kulturellen Realität bedeutet. Sie ist die Grundlage unserer Erzählung über uns selbst, unserer Entstehungsgeschichte und unserer Bezugnahmen, ob sie nun irdischer oder symbolischer Natur sind. Der Mensch ist das einzige symbolische Lebewesen: Wir können uns kein Leben vorstellen, das nicht mittels sprachlicher Symbole gedacht und erzählt werden kann. Unsere Identität, dieses merkwürdige Phänomen, das uns «fühlen» lässt, dass wir in der Zeit konstante Individuen sind (trotz des ständigen Wandels durch Lern- und Alterungsprozesse), beruht auf Vorstellungskraft und Erzählung: der unseren. Wobei die Erzählung schon beginnt, bevor sich unser Bewusstsein entwickelt. Noch bevor wir eins haben können, wenn wir eben erst geboren sind, geben uns andere einen Namen: Mit diesem treten wir in die Welt der Sprache ein. Wir sind ausserdem die einzigen Lebewesen, die im Lauf der Evolution die sichere Richtschnur des Instinkts durch ein kulturelles Gefüge ersetzt haben beziehungsweise durch zahlreiche kulturelle Gefüge, die sich aus Bedeutungen zusammensetzen. Diese wiederum bestehen sowohl aus individuellen als auch kollektiven Vorstellungen, aber auch aus Wörtern oder Parabeln, die wir einander – erfolgreich oder erfolglos – zuwerfen. Die Welt, die jemand wahrnimmt, hat immer die Eigenschaften, die man ihr zuschreibt, und verfügt dank der Konfrontation mit anderen Vorstellungen auch über Varianten. Ein Verhalten ist immer die Folge einer interpretativen Auswahl, auf der Basis sowohl der äusseren Welt als auch von uns selbst. Aus jeder Interpretation wird eine Identität der benannten Realität – es gibt unzählige davon!

Ich bezahlte meinen Einkauf, verabschiedete mich von der Kassiererin und war einen Augenblick lang versucht, sie zu fragen, wie es ihren anderen Ichs gehe, verzichtete jedoch darauf. Inzwischen hat sich ja die Erkenntnis durchgesetzt, dass «jedes Mal, wenn sich zwei begegnen, in Wirklichkeit sechs Personen anwesend sind. Für jeden Menschen gibt es einen, der so ist, wie er zu sein glaubt, einen, der so ist, wie ihn der andere sieht, und schliesslich einen, der so ist, wie er wirklich ist»6, wie James es treffend ausdrückte. Ein Konzept, das sich mit dem ergänzt, was Paul Ricoeur bezüglich der geteilten Erinnerung gesagt hat, die immer durch den Filter einer drei­fachen Referenz, auf das Selbst, die anderen und die Nahen, erlebt werde.7

Wir sind unweigerlich immer im Plural, doch wie viele sind wir, wenn wir in einer anderen Sprache existieren? Sind wir immer noch zu sechst oder verdoppeln wir uns? Und wie viele Erinnerungen sind es dann? Wie viele Identitäten, Darstellungen, Projektionen, Vorstellungen sind möglich oder übersetzbar?

Ich stellte die Einkaufstaschen ins Auto: vier unterschiedlich volle Einkaufstaschen. Eine Art Metapher für die Vielsprachigkeit und Interkulturalität der Schweiz, die auch durch die Etikettierung der Produkte in den Landessprachen unterstrichen wird: ob Tessiner Butter oder Bündner Trockenfleisch, Emmentaler Fondue oder Berner Rösti. Dazu Anderes, Hybrideres, oder Fusion, wie es in der Gastronomie heisst. Die Fusionsküche kombiniert Elemente aus verschiedenen kulturellen Traditionen und kreiert daraus komplexe Menus oder Gerichte, die auf keine bestimmte kulinarische Tradition zurückgeführt werden können. Spuren verlieren sich, Wurzeln vermischen sich, man beginnt wieder bei null. Was wird aus der Null, wenn man sie mit unendlichen Möglichkeiten multipliziert?

Wenn ich etwas (oder jemandem) einen Wert zuordnen will, muss ich mir Alternativen dazu vorstellen können: Jeder von uns hat ein ganzes Set davon, eine Sammlung mentaler «Abziehbilder», auf denen dargestellt ist, «wie-die-Dinge-meiner-Meinung-nach-sein-sollten», abgeleitet von den denkbaren Koordinaten der eigenen Kultur. Übereinanderlegen, Überschneidungen mit der Zielkultur finden, Alphabete und deren Sinngehalte in Übereinstimmung bringen, auch die Absichten übersetzen. Wo liegt die ideale Präzision? In der Vielstimmigkeit8, der gleichzeitigen Verwendung mehrerer Arten von Sprache und Diskurs und von anderen Zeichen. In der Spannung, die zwischen diesen entsteht, und in der konfliktgeladenen Beziehung zwischen ihnen. Im Ensemble, das sie bilden. Sie ist unsere Sprache, unsere Orangenwahrheit. «Wahrheiten kann man nicht durch Beweisketten erschliessen, man muss sie erproben. Wenn Orangenbäume in diesem Boden und nicht in jenem gut anwurzeln und reichlich Früchte tragen, dann ist dieser Boden ihre Wahrheit.»9

 


1 Jorge Luis Borges: Borges und ich: Kurzprosa und Gedichte. München: Hanser, 1984.
2
Madeleine de Scudéry: Clelia, eine römische Geschichte. Nürnberg: Endter, 1664.
3
Niccolò Macchiavelli: Discorso o dialogo intorno alla nostra lingua. In: Tutte le opere. Florenz: Sansoni, 1971.
4
Hieronymus Sophronius Eusebius: Epistulae LVII, 1–4.
5
Johann Ignaz von Felbiger: Methodenbuch für die Lehrer der deutschen Schulen. Wien: Deutsche Schulanstalt, 1775.
6
James William: The Principles of Psychology. Harvard University Press, 1981.
7
Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. München: Wilhelm Fink, 2004.
8
Der Begriff Vielstimmigkeit wurde von Michail Bachtin geprägt, der ihn 1934/35 in seinen theoretischen Schriften über den Roman verwendete, und erlangte ab den 1980er Jahren Bedeutung in anthropologischen und literarischen Arbeiten.
9
Antoine de Saint-Exupéry: Wind, Sand und Sterne. Düsseldorf: Karl Rauch, 2010.


Fabiano Alborghetti
ist Dichter, Kulturaktivist und Fotograf. Für «Maiser» (Marcos y Marcos, 2017) gewann er 2018 den Schweizer Literaturpreis. Alborghetti lebt im Tessin.


Barbara Sauser
übersetzt aus dem Italienischen, Russischen, Französischen und Polnischen. Sie lebt in Bellinzona.

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