Andri Perl:
«Die Luke»
Früher, in Kindertagen, als wir «Die unendliche Geschichte» von Michael Ende lasen, hatten wir schon ein Gefühl dafür, wie das ist, wenn sich die grosse Leere, das Nichts ausbreiten wird. Wir dachten, es wird die Phantasielosigkeit sein, die uns als Erwachsene schlucken wird; die Figuren der Kindheit werden verschwinden, was bleiben wird, sind graue Gesichter und ein traumloser Schlaf.
Heute sehen wir: Michael Ende lag daneben und hatte doch irgendwie recht. Die grosse sich ausbreitende Leere nimmt andere Formen an. Erst einmal betrifft sie unsere Städte: Unsere Metropolen im Bauboom bringen kaltglänzende «Buildings» aus Betongold hervor. Nach 20 Uhr sind diese Bezirke ausgestorben, denn darin wohnt niemand; ob darin gerne gearbeitet wird, ist eine gute Frage. Andere Quartiere fallen dem Gentrifidingsbums-Fieber zum Opfer, werden hip und teuer und kreativ und irgendwann seelenlos. Und die Menschen, die darin leben? Sie werden auch seelenlos, weil sie zu viel arbeiten und kreativ sein müssen und kompetent und innovativ. Und das Bemerkenswerte ist: Sie wollen es genauso; sie wollen, was sie sollen.
Andri Perl erzählt in seinem Roman «Die Luke» von einem Quartier, das noch viele gute alte Züge des Lebendigen und Seelenvollen trägt; die Zeichen der Zeit in Form von Sushibars und Elterncafés sind aber unübersehbar, die Leere kommt näher. Hauswart Hans schafft seine Arbeit kaum noch; neue, anspruchsvolle Bewohner plagen ihn, der Modernisierungsdruck, der Druck von der Hausverwaltung, überall ist Druck. Als er schliesslich einen Hausbewohner tot auffindet, für den er im Urlaub die Blumen giessen sollte, aber wegen des ganzen Stresses nicht dazu kam, befällt ihn die grosse Leere. Hans erleidet «eine Art Burn-out» – ein Quartier, in dem schon Hauswarte ein Burn-out erleiden, muss krank, ziemlich krank sein! –, er verschwindet in der Luke im Keller und taucht als Auszeitwilliger wieder auf.
Die Luke ist jedoch nicht nur Hans’ Fluchtort, sondern auch der Fixpunkt, der alle Figuren und Erzählstränge des Romans zusammenhält. Gil, der Sohn des Hauswarts, gibt sie für einen illegalen, nächtlichen Warenaustausch frei, um den sich in der Folge allerlei Unwägbarkeiten ranken: Wurde in der Luke mit Drogen gehandelt? Oder mit einer wertvollen Marienstatue? Dieser Krimiplot ist elegant mit der Milieustudie verwoben, und überhaupt fällt es leicht, mit den von Perl geschaffenen Figuren warm zu werden. Schwächer wird der Roman, wenn er sich buchstäblich in jenem Nebel verliert, der sich herbstlich über dem Quartier auszubreiten beginnt. In diesen Passagen wird das Erzählte leicht austauschbar, und es ist gut, wenn es wieder zu seinen Stärken, zu den Figuren und zum Lukengeschehen zurückkehrt. Die grosse Leere, die beide amalgamiert, sie wird uns thematisch wohl noch einige Zeit beschäftigen. Der Autor Andri Perl sicherlich, hoffentlich auch.
Andri Perl: Die Luke. Zürich: Salis, 2013.