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Nell Zink:  «Virginia»

Nell Zink:
«Virginia»

Dieser Roman zeigt Identitäten als temporäre Phänomene.

Als Nell Zink 2015 ihren zweiten Roman «Mislaid» in den USA veröffentlichte, litt er an einem Glaubwürdigkeitsproblem: eine Weisse, die sich und ihre Tochter als Schwarze ausgibt? An den Haaren herbeigezogen, lautete das Urteil. Noch im selben Jahr sorgte dann der Fall der (vermeintlich) schwarzen Bürgerrechtlerin Rachel Dolezal für Aufsehen, die von ihren enttäuschten Eltern als Weisse geoutet wurde – das Authentizitätsdefizit war rückwirkend behoben. Figuren und Plot von «Virginia», so der Titel im Deutschen, sind zwar fiktional, die Autorin schöpft aber aus einem persönlichen Erfahrungsfundus. In Virginia, wo sie aufgewachsen ist, genügte ein einziger schwarzer Vorfahre in der Ahnenreihe, um für die Gesellschaft als schwarz zu gelten. Diese soziokulturelle Komponente bettet der Roman in eine pointenreiche Darstellung von Übergangsidentitäten und Identitätsübergängen ein, die die Diskrepanz zwischen Selbstbild und Wirklichkeit beleuchtet: Peggy, die Hauptfigur, ist verheiratet und hat zwei Kinder, tendiert aber eigentlich zur lesbischen Liebe; sie träumt von einer Karriere als Theaterautorin, stattdessen vertickt sie Tierleichen und Drogen, um ihre Tochter zu ernähren; sie sehnt sich nach New York, bleibt aber, nachdem sie mit der gemeinsamen Tochter vor ihrem Mann getürmt ist, in der Provinz hängen. Dort stösst sie auf ein verlassenes Haus, eine Bruchbude, und besetzt es. Vorübergehend – sie will ja nicht für immer bleiben. Es ist dieses Nomadentum, das sich in nahezu allen Relationen zeigt, die der Roman aufbietet. Denn nicht nur Peggy führt ein soziales Verhältnis entgegen ihren Neigungen, auch ihr Mann Lee, ein an der Universität lehrender Dichter, tendiert vor und auch während ihrer Ehe immer wieder zu Männern. Obwohl er einer reichen Familie entstammt, besitzt er selber nur Ländereien – totes Kapital. Wie sie bewegt auch er sich zwischen den diversen Klassen, zwischen Reichtum und Armut, zwischen der sozialen Entrücktheit des Künstlers und dem trivialen Eheleben, zwischen der Homo- und der Heterosexualität. Beide, Peggy wie Lee, sind in keiner gesellschaftlich markierten Identität wirklich sesshaft.

Das ist eine wesentliche Qualität des Romans: Er zeigt Identitäten als temporäre Phänomene. Wenn Peggy sich und ihre blasse, platinblonde Tochter bei der Schulbehörde als schwarz ausgibt, dann ist die Pointe dabei nicht nur, dass sie eigentlich weiss sind, und auch nicht, dass diese Selbstauskunft für wahr genommen wird, sondern dass dadurch eine Eindeutigkeit statuiert wird, die die Erfahrungswelt des einzelnen nicht adäquat reflektiert. Philip Roth hat diese Eindeutigkeit in «Der menschliche Makel» desavouiert, indem er einen Literaturprofessor seine schwarze Herkunft verleugnen und wegen einer angeblich rassistischen Äusserung ins Verderben stürzen lässt. Was aber bei Roth, der einzige Makel seines Romans, mitunter wie eine programmatische Reihung von Klischeewiderlegungen wirkt, präsentiert Zink mit einer anarchistischen Nonchalance, der dieser Belehrungsmodus grundlegend fremd zu sein scheint. Ihre Figuren stolpern über Zufälle Shakespeareʼscher Ausmasse ebenso oft wie über ihre eigenen Vorurteile, ambivalenten Neigungen und Ideale – aber auch das nur übergangsweise und verblüffend untragisch.

Die Erzählung selbst schlägt ebenfalls in kaum einer Figur, in kaum einer Szene wirklich Wurzeln. Allein Peggys Kindheit, Jugendeskapaden und Heirat sind nach den ersten zwanzig Seiten abgehandelt. Diese Erzählweise illustriert nicht opulent oder zielt auf eine nuancierte psychologische Anschaulichkeit, sondern macht die wesentlichen Implikationen einer Geschichte kenntlich. In Rezensionen heisst das dann gern, die Erzählung sei «rasant» oder «temporeich». Dabei nimmt der Roman erfreulich wenig Rücksicht auf Leser, die in einer Geschichte vornehmlich schwelgen wollen. Zinks Humor bleibt auch dann kühn und lupenscharf, wenn eine Elfjährige als «sexuelle Freibeuterin» von ihren Freundinnen um den erheblich älteren Beschützer beneidet wird. Gleichwohl wird dem Leser kein unnötiger Horror zugemutet: Die Katastrophe droht immer nur, tritt aber nie ein. «Virginia» ist, auf dieser Ebene, auch ein Roman über das Davonkommen. Ein Trostangebot, das in einer sorgfältigeren Übersetzung noch verlockender wäre.


Lesen Sie auch das exklusive Interview mit Nell Zink.

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