Heinz Helle:
«Die Überwindung der Schwerkraft»
In seinem nächsten Buch gehe es darum, ob man Kinder in die Welt setzen solle, erklärte Helle im Frühling einer Mitarbeiterin der «Aargauer Zeitung». Die hatte ihn und seine Partnerin, die Autorin Julia Weber, für eine Homestory besucht. Im Hintergrund schwirrte die kleine Tochter herum. So weit, so gmögig.
Wenn einer sich so präsentiert, müsste eigentlich klar sein, welche Antwort er mit seinem Buch geben will. Schliesslich endet der Roman damit, dass der Ich-Erzähler mit seiner Tochter Altglas entsorgt.
Aber so einfach ist das nicht. Denn im Zentrum des Romans stehen nicht die Freuden des Vaterseins, sondern die Erinnerungen an den Halbbruder. Der, eine gescheiterte, alkoholkranke Existenz, erwartete einige Monate vor seinem plötzlichen Tod zwar ein Kind, doch unter ganz anderen Vorzeichen. Nicht nur ist die Mutter eine Prostituierte, das Kind ist auch nicht sein eigenes. Aufziehen will er es trotzdem: Die Liebe zu einem Kind sei die einzige Form von Selbstlosigkeit, die es gebe, erklärt er seinem kleinen Bruder in einer Münchner Kneipe.
Doch während die beiden immer betrunkener werden – es ist ihre letzte gemeinsame Nacht –, wird immer klarer, wie verzweifelt der werdende Vater eigentlich ist. In ausufernden Monologen schildert er die Verbrechen der SS oder des Kinderschänders Marc Dutroux. Die Bilder, die dabei entstehen, vergisst man so schnell nicht mehr, auch weil Helle die Gräueltaten so reduziert beschreibt, dass die eigene Vorstellungskraft die Leerstellen füllen muss. Die Kettensätze, die den Grossteil des Romans ausmachen, tragen ihr Übriges dazu bei, dass man sich als Leser bald ebenso getrieben fühlt wie die beiden Geschwister.
Um die Münchner Sauftour ordnet Helle weitere Erinnerungen an. Zum Beispiel daran, wie die Brüder als Kinder eine Nacht im Wald verbringen wollten, was in Verbindung mit den Dutroux-Erinnerungen besonders bedrohlich wirkt. Dabei entsteht ein vielschichtiges Porträt einer sehr ungleichen Beziehung.
Auf den ersten Blick scheint es dabei, als hätte der Roman eine eindeutige Moral – so prangert der Bruder z.B. die permanente Aufwertung des einzelnen an. Die führe dazu, dass jeder glaube, die Schwerkraft richte sich allein gegen ihn. Besteht die «Überwindung der Schwerkraft» also doch, wie die Homestory erwarten lässt, im Glück des Familienlebens? Dem widerspricht nicht nur, dass die Prostituierte den Bruder, der laut dem Erzähler sowieso bereits zu krank für das bevorstehende Glück gewesen sei, unmittelbar nach der Geburt verlässt, sondern auch, dass es ein Ich-Erzähler ist, durch den wir das alles erfahren.
Sowieso fällt die Gravitation in diesem Roman alles andere als schwach aus. Die Monologe des grossen Bruders erweisen sich oft als schwarzes Loch, das das wenige Licht, das von den Ausführungen des Erzählers ausgeht, verschluckt. Eindeutige Antworten bleiben aus. Zum Glück. Denn es ist gerade seine Offenheit, die diesen Roman so stark macht. Wer klare Antworten sucht, kann ja immer noch den Dalai Lama lesen.
Heinz Helle: Die Überwindung der Schwerkraft. Berlin: Suhrkamp, 2018.