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Ein Nachmittag mit «Mama Brunetti»

Ein deutscher Schriftsteller mischt sich im Walliser Dorf Ernen unter die Teilnehmer eines jährlich ausgebuchten Schreibseminars. Die Dozentin ist keine Geringere als die Bestsellerautorin Donna Leon. Eine satzweise Annäherung zweier Wortkünstler, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Ein Nachmittag mit «Mama Brunetti»

Frau Leon, in Ihrem Workshop in Ernen vermitteln Sie seit neun Jahren den Teilnehmern wichtige Aspekte des Schreibens. Warum tun Sie das ausgerechnet in einem Dorf wie Ernen und nicht in der Zürcher Grossstadt oder in Bern, wo es möglicherweise mehr Teilnehmer gäbe?

Ich komme gerne hierher, weil die Darbietungen der Musikwochen immer vom Feinsten sind und weil sich – über die Jahre hinweg – eine gewisse Vertrautheit zwischen mir und den Teilnehmern des Seminars eingestellt hat. Man könnte sagen, wir sind Freunde, die gerne lesen und sich an diesem wundervollen Ort treffen, um einmal ernsthaft – oder auch nicht – über das, was wir gelesen haben, zu plaudern.

 

Welche Voraussetzung braucht ein Teilnehmer? Einmal abgesehen von den 590 Franken – ein abgeschlossenes Studium?

Überhaupt nicht. Die Klasse setzt sich aus den unterschiedlichsten Leuten zusammen. Es sind alles Leseratten, die einfach gerne mehr Gelegenheit hätten, sich über Literatur auszutauschen. Die Tatsache, dass die Begegnung an diesem pittoresken Ort stattfindet, zeitgleich mit drei Barockkonzerten, erhöht natürlich noch das Vergnügen.

 

Ich habe auch einmal einen Schreibkurs absolviert, 1981 am San Francisco Art Institute. Das Ganze nannte sich «creative writ-ing» und befähigte mich später in London, nicht weit von Salman Rushdies damaliger Werbeagentur, einen Job als Werbetexter zu finden. Wie sind eigentlich Sie in die Werbung geraten?

Mein Ausflug in die Werbung war recht kurz. Ich war Dozentin für Anglistik für dreissig Jahre.

 

Gibt es für junge Schriftsteller ein besseres Training, als Beipackzettel, Multi-Coupon-Reklame und Gebrauchsanleitungen zu schreiben?

(lacht) Ich denke, es ist eine gute Übung. Andererseits, wenn man ein Stück ernster Literatur sorgfältig liest und es dann ausführlich analysiert, ist das ebenso gut.

 

Vielleicht sollte ich das mal tun. In zehn Jahren habe ich bloss einen einzigen Bestseller geschrieben, Sie dagegen zwanzig, dreissig…? Irgendetwas mache ich falsch.

Wissen Sie, ich denke nicht in Begriffen wie richtig und falsch. Ich habe keinen regulären Job, und deshalb habe ich viel Zeit, an meinen Büchern zu arbeiten. Und da das Schreiben enorm viel Spass macht, freue ich mich immer darauf, wie Sie sich sicherlich auch auf das Schreiben freuen.

 

Ein Verleger sagte mir mal, das Buchgeschäft habe nichts mit Schreiben zu tun. Es ginge im wesentlichen darum, eine Formel zu finden.

Deshalb ist er wahrscheinlich Verleger geworden und kein Schriftsteller.

 

Lassen Sie sich von den gesellschaftspolitischen Veränderungen der letzten Zeit beeinflussen? Die westliche Welt ist korrumpierter und ambivalenter geworden. Gibt es in Ihren Fiktionen so etwas wie ein verstecktes, faktisches i-Tüpfelchen?

Sehen Sie, ich bin nicht sicher, ob unsere wundervolle westliche Welt das Monopol auf Korruption und Unehrlichkeit hat. Es gibt viele Orte auf der Welt, wo der alltägliche Broterwerb bedeutend schwieriger und gefährlicher ist. Ich habe jedenfalls noch nie gelesen, dass man im Westen Politiker oder Geschäftsleute ermordet, aber vielleicht lese ich auch die falschen Zeitungen…

 

…vielleicht leben Sie in einer anderen Zeit? Beim Lesen Ihrer Romane glaubt man manchmal, den Klang von Händel oder Antonio Bertali zu hören. Schreiben Sie zu Musik? Oder gibt es da vielleicht noch andere Stimulanzen?

Nein. Wenn ich schreibe, kann ich nicht noch Musik hören: Es würde mich zu sehr ablenken…

 

… für mich klingt das, was Sie schreiben, immer auch etwas nach Georges Simenon, weniger nach Patricia Highsmith. Wer ist der literarische Pate der Donna Leon?

Da Simenon auf Französisch schrieb, wage ich zu bezweifeln, dass es da eine Ähnlichkeit gibt. Highsmith gebrauchte kürzere Sätze und kam mit einem recht bescheidenen Vokabular über die Runden. Ich würde mir schmeicheln, wenn ich behauptete, meine Prosa erinnere an Ross MacDonald.

 

Ross MacDonald war der geistige Vater von Privatdetektiv Lew Archer. Haben Sie sich deshalb für Commissario Brunetti entschieden? Sie hätten ja auch etwas anderes als Krimis schreiben können…

Ich habe mich für Kriminalliteratur entschieden, weil ich davon an der Graduiertenschule jede Menge gelesen habe und einfach dachte: Das kannst du auch.

 

In Brunettis erstem Fall «Venezianisches Finale» hatte ich manchmal den Eindruck, Sie seien selbst ein bisschen in Ihren Helden verliebt. «Wie durch ein dunkles Glas» klingt dagegen so, als hätten Sie innerlich die Scheidung eingereicht…

Aber nein. Ich finde Brunetti noch immer bewundernswert.

 

Kommen wir noch einmal auf das Schreiben zurück: Haben Schriftsteller, die bessere Kriminalliteratur schreiben, nicht generell eine negative Vorstellung von der Welt? Manchmal glaube ich, wir «Verschriebenen» sind alle nur Prismen, die das Licht der Welt – im übertragenen Sinne – filtern und intensivieren. Das Bewusstsein funktioniert dabei wie ein Brennglas. Was auf dem Papier entsteht, lässt sich abstrakt gesehen mit spek-troskopischen Ausschlägen vergleichen – oder wie sehen Sie das?

Ich kenne keine anderen Kriminalschriftsteller; deshalb kann ich nicht sagen, wie sie die Welt sehen. Meine eigene Weltsicht ist ziemlich düster, aber ich bleibe trotzdem optimistisch gestimmt. Ich glaube, Schriftsteller sind wie andere Leute, einmal abgesehen davon, dass wir von unserer Einbildungskraft leben.

 

Haben Sie denn niemals unter Stress schreiben müssen?

Ich vermute mal, ich bin ein ziemlich normaler Mensch und daher ruhig und zuversichtlich gestimmt. Schreiben ist etwas, was mir ungeheuren Spass macht; deshalb habe ich kaum Stress.

 

Aber wie werden Sie mit Deadlines – also Abgabeterminen – fertig? Besonders wenn Sie die einmal nicht schaffen?

Ich habe bisher jede Deadline geschafft.

 

Beeindruckend. Wären Sie stolz, falls einer Ihrer Studenten aus Ernen einen Krimi-Bestseller schreiben würde? Und würden Sie seine Karriere unterstützen?

Aber ja, ich wäre natürlich sehr erfreut, wenn einer der Studenten ein gutes Buch schreiben würde. Sollte mir das Buch gefallen, würde ich es selbstverständlich empfehlen.

 

Zum Abschluss: Was können die Leser von Donna Leon in Zukunft erwarten? Wie wäre es hiermit: Den pensionierten Commissario Brunetti verschlägt es nach Ernen, wo er in Ihrem Workshop landet und sein eigenes Leben zu Ende schreibt. Fakt oder Fiktion?

(lacht) Unmöglich. Würde Brunetti Venedig jemals verlassen, was ich übrigens für ein Ding der Unmöglichkeit halte, würde es ihn wohl eher nach Neapel oder Palermo ziehen.

 

Photo: Regine Mosimann / © Diogenes Verlag

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