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Hungerbühler & die Tote vom Strand

Erzählung

Hungerbühler & die Tote vom Strand
Illustration von Corinne Mock.

«Und am Abend träumen sie von Santo Domingo, von Santo Domingo und weissen Orchideen…»Wanda Jackson

Die Leiche
Sosúa, Ostersonntag

«Una muerta, una muerta!»

Eben noch schwankte Hungerbühler wie ein Kahn, den scheinbar nichts aus der Ruhe bringen konnte, durch das morgenfrische Sosúa. Vorbei an der Tokyo Sushi Bar (sic!), dem Check Point, dem Thrift Store. Dem Dreck halt, den man hier für die Touris hingepflastert hat. Vorbei an verschlafenen Souvenirständen und geschlossenen Strandbars, vor denen sich die allgegenwärtigen grünen Plastikstühle stapeln, karibischer Monobloc. Auf einen Chlapf ist er hellwach und stocknüchtern.

Hinter ihm trottet Arturo, der eher den Eindruck eines Schiffbrüchigen macht.

«Über Ostern fahren viele Dominikaner an den Strand und übernachten da», murrt er, wohl weil er sich verpflichtet fühlt, Hungerbühler zu erklären, was er gleich sehen wird.

«Im Fressen und im Saufen sind sie ungeschlagen», fügt er hinzu.

Seine Schiissluun sei ihm verziehen, denn in seinem Gring – und dort, wo Arturo herkam, hatte man nun mal keinen Kopf, sondern einen Gring – fuhrwerkte es grausam. Die Magenwände flatterten wie tibetische Gebetsfähnlein auf dem Gipfel eines Achttausenders. Der Mamajuana, das hiesige Zaubergesöff mit Rum, Honig und Hölzern, ist ihm dieses Mal nicht wohl bekommen. Man sagt, es könne von Schnupfen bis zu Impotenz, von Unfruchtbarkeit bis zu Krebs alles heilen. Nebst aus diesen auf der Hand liegenden Gründen spricht man ihm prophylaktisch in Massen zu.

Nach einer zweitägigen Sauftour waren sie am Vorabend endlich in die Federn gekommen. Aber wohl immer noch zu früh, weil dieser Pendejo von Hungerbühler war bereits bei Tagesanbruch wach und vergnügt. Er klopfte ihn, Arturo Fankhauser von Trubschachen, der die halbe Nacht hatte erbrechen müssen, aus dem Nest.

«Bist du wach? Arturo, bist du wach? Schau mal, die Dämmerung, ganz verreckt! Hast du so was schon gesehen? Als hätte man einen Lichtschalter umgelegt! Bist du wach? Lass uns zum Strand gehen! Arturo…?» Dazwischen ungeduldiges Klopfen an seiner Schlafzimmertür. Eine dominikanische Mutter, die zwölf schwerhörige Goofen für die Schule bereitmachen muss, hätte keinen solchen Wirbel veranstaltet.

«Una muerta, una muerta… ay dios mio!»

Und jetzt kommt diese Frau gerannt. Wie eine Loca, eine Verrückte, kommt sie gerannt. Ihre Hände haben sich verselbständigt und schlagen abwechselnd auf ihren Kopf ein und darüber zusammen. Ausser Atem schreit sie unaufhörlich, mit sich überschlagender, sirenenschriller Stimme.

«Una muerta, una muerta… ay dios mio!»

Am anderen Ende der Bucht ragt der Pico Isabel de Torres, der Hausberg des Silberhafens Puerto Plata, stumm und friedlich in den Himmel. Über dem Meer türmen sich Wolkenformationen wie schwebende Bauwerke längst vergangener oder weit zukünftiger Zivilisationen.

«So wird im Städtele also geweckt», amüsiert sich Hungerbühler, während Arturo, nun noch missmutiger, zischt:

«Da hat’s öppe einen erwischt.»

Etwas muss angeschwemmt worden sein, der Menschentraube nach zu urteilen, die sich unten am Meer mit gezückten Smartphones versammelt hat. Es wird photographiert und geschnattert, bis ein Strandwächter kommt und die Polizei ruft. Ihr Posten liegt gleich um die Ecke. Dennoch braucht man eine geschlagene halbe Stunde, bis man – dann aber standesgemäss mit Blaulicht – einfährt und die Gaffer verscheucht wie lästige Fliegen.

Zu diesem Zeitpunkt haben die Kumpels den Körper, den das Meer ausspuckte, bereits erkannt. Es ist ein ganz und gar unappetitlicher Anblick und die Sonne leuchtet alles bis ins kleinste kleinste Detail gnadenlos aus.

Das Blut weicht aus Hungerbühlers Gesicht.

«Das ist ja…»

«Orquidea!», beendet Arturo den Satz und hofft, dass dieser Muni von einem Mann jetzt nicht am Strand zusammenklappt.

 

Die Ankunft
Sosúa, Karfreitag

Godi Hungerbühler hat einen Mordskohldampf. Selig ruhen seine Pranken auf dem grossen runden Bauch, über den ein oranges Hemd hängt. Nicht wie ein Kleidungsstück, eher wie ein Vorhang oder ein Segeltuch. So hockt er im Beifahrersitz und der schwarze Pick-up mit der edlen beigen Lederausstattung gleitet smooth durch das träge Treiben des dominikanischen Nachmittags. Ein Prachtstag, wie er in keinem Buche steht.  

Einen Steinwurf von hier katapultierte sich Falco ins Jenseits. Rückwärts vom Parkplatz auf die Strasse, direkt vor einen Reisecar ist er gerast. Der Legende nach steckte im Kassettendeck ein Demo-Tape seines neuen Albums «Out of the Dark», das an der Stelle «Muss ich denn sterben / um zu leben?» stillstand. Es war das tragische Ende einer Liebesgeschichte, wie es sie hier zuhauf gibt. Trotzdem ist diese anders verlaufen: Während die meisten Väter in der Karibik wohl vor Freude durch die Decke schiessen würden, dass ihre Tochter einen reichen Europäer datet, verbot dieser Mann, seines Zeichens Bürgermeister des Nachbarortes Cabarete, seinem Mädchen, Falco wiederzusehen. Was er gelesen hatte, die Drogen, die Skandale, schreckte ihn ab. Vielleicht waren die Zeiten anders, vielleicht war es dieser Mann. Heute kann man Narco sein, Puta, Asesino. Wer Schotter hat, wird geliebt. Die Wirtschaft läuft beschissen, trotz Aufschwung und Allzeithoch im Tourismus. Weil eine Hand die andere wäscht und das Geld versickert.

Wo es ein Pica Pollo gibt, was zu saufen, einen Ausflug, Kleider, ein Telefon, da heult das Rudel mit. Zur momentanen ökonomischen Schieflage wird folgender Witz herumgereicht: Treffen sich Donald Trump, Justin Trudeau und Danilo Medina (der Präsident der Dominikanischen Republik): Trump sagt: «Meine Leute verdienen im Schnitt 3000 Dollar. 2000 brauchen sie zum Leben, was sie mit den anderen 1000 machen, ist mir egal.» Trudeau: «Meine Leute verdienen im Schnitt 4000 Dollar. 2000 brauchen sie zum Leben, was sie mit den anderen 2000 machen, ist mir egal.» Medina: «Meine Leute verdienen im Schnitt 300 Dollar. 1000 brauchen sie zum Leben, wo sie die anderen 700 hernehmen, ist mir egal.»

«Ich habe einen Mordskohldampf», sagt Hungerbühler.

«Wir sind gleich da», lärmt Arturo. Das Autoradio ist bis zum Anschlag aufgedreht. Romeo Santos, Sohn eines Dominikaners und einer Puerto Ricanerin in Nueba Yol (New York) und Bachatero numero uno, den die Insel hervorgebracht hat, säuselt, er sei «borracho como un perro», besoffen wie ein Hund.

Bachata, dieser dominikanische Blues, ist im Eigentlichen ein verhunzter Bolero. Die Campesinos, die Leute vom Land, spielten ihn als erste in ihren Barracas in den Cañas, den Zuckerrohrfeldern. Lange blieb er die Musik der einfachen Leute. Der Underdogs, der Analphabeten, der Verdammten dieser Erde. Der Soundtrack der Puffs und Spelunken, der Huren und Ganoven. Dem Karibikhitler Trujillo, der Merengue bevorzugte, war der Bachata vor allem auch seiner eindeutig sexuellen Texte wegen verhasst. Trujillo praktizierte als einer der Ersten White-Facing mittels Puders und Make-ups, um seine verhassten afrikanischen Wurzeln wortwörtlich zu überdecken. Wurde es zu heiss und die Camouflage drohte im Schweiss zu zerlaufen, verscheuchte er furios die anwesenden Photographen und Claqueure. Er brachte es auch fertig, 1956 eine Werbebroschüre für die Dominikanische Republik zu publizieren, in der ausschliesslich weisse, blonde Menschen abgebildet waren. Kurz nachdem der Diktator 1961 – viel zu spät – in einem Hinterhalt auf der Avenida Washington in seinem Wagen durchsiebt worden war, reisten die ersten Bachateros, unter ihnen Marino Perez und José Manuel Calderón, in die Hauptstadt, um Platten aufzunehmen. Noch bis in die 1990er Jahre wurde die Musik fast ausschliesslich in Kaschemmen und Bordellen gespielt. Dann kam Aventura, eine Boyband aus Exilanten. Einer davon war Romeo Santos. Er singt mit androgyner Stimme und wirkt sexuell ambivalent. So nennen ihn auf der Insel viele Julieta.

Arthur Fankhauser, hier Arturo, war ein langjähriger Arbeitskollege von Hungerbühler. Beide haben sie die Verkehrsschule gemacht, das Welschlandjahr (PTT, petit travail tranquille, lernte er da), wurden Postbeamten und später in verschiedenen Funktionen durch zahlreiche Reorganisationen am Berner Hauptsitz gereicht. Ende fünfzig wurde er überflüssig und, zu hervorragenden Konditionen, frühpensioniert. Oder aussortiert, wie Arturo, der damit haderte, es bis heute nannte.

Hungerbühler erfuhr davon im Zug. Sie fuhren jeden morgen zusammen BLS.

Ersterer von Escholzmatt her, Arturo stieg in Langnau zu. Es war eine schöne Strecke, die ihnen nie verleidete.

Hungerbühler war der jüngste Sohn einer Bauernfamilie, ein waschechter Äntilibuecher. Entgegen den hiesigen Gepflogenheiten übernahm er nicht den elterlichen Hof, sondern machte eine Lehre. Nach der Verkehrsschule mietete er sich ein Wohnigli im Dorf und blieb sinerläbtig (zumindest bis anhin) überzeugter Junggeselle.

Arturo, der mit seinem schwindenden, aber wirren Haar, seiner Hornbrille und dem halbschlauen Gesichtsausdruck an Woody Allen erinnerte, war ein Arbeiterkind. Sein Vater bügelte in der Kambly-Güetzifabrik.

Noch einmal neu anfangen wolle er, sagte Arthur Fankhauser von Trubschachen an diesem Frühlingsmorgen zwischen Konolfingen und Bern.

Die Kinder waren draussen, die Ex-Frau neu verheiratet. Das Wiesengrün strahlte mit dem Himmelblau um die Wette, aus den Bauernhäusern stiegen feingliedrige Rauchschnörkel wie Landschaftsornamente. Die Stimmung war so lieblich, als gäbe es nichts Böses in der Welt.

«Ein Neubeginn im ewigen Sommer», so Fankhauser. «Und diese Tuble bezahlen», fügte er bitter an und lachte, etwas zu gepresst, die auseinandergezogenen Lippen gaben etwas zu viel Zahn frei. Dass er nun auf dem Abstellgleis gelandet war, machte ihm mehr zu schaffen, als er Hungerbühler eingestehen wollte.

«Höufmrmau!» Seit geraumer Zeit versucht Arturo eine kleine Kühlbox, die zwischen ihnen steht, zu öffnen, wird aber stets von entgegenkommenden Autos abgelenkt, denen er ausweichen muss.

Hungerbühler macht das Ding auf, eine Flasche Black-Label-Whiskey auf Eis.

«Im Handschuhfach hatʼs Becher!»

Der Flug war unspektakulär verlaufen. Der Vogel mit Rentnern gefüllt, bei denen Karibik-Kreuzfahrten in Mode gekommen sind. Horden von bleichen Alten rollten vor dem Start ihre Stützstrümpfe hoch, um begeistert der Sonne entgegenzufliegen. Von Puerto Plata legen die schwimmenden Festungen ab. Man wird von Insel zu Insel gereicht, sieht überall dasselbe und doch nichts Rechtes. Um sich die Zeit zu vertreiben, klopfte Hungerbühler mit einem Bündner einen Jass. Dieser hatte eine schaurige Angst in seinen Augen. Für ihn war es das erste Mal in der Luft. Das ganze Leben hatte er den Pferden aus dem Fuhrwerk, das er betrieb, geschaut. Seine Frau, die mit den Kindern bereits einige Male verreist war, wachte umsichtig neben ihm.

«Wir sind da», päägget Arturo und biegt abrupt nach rechts ab.

Germany Bar und Grill, ein Biergarten in der Karibik.

Bei Paulanerbier und Szegediner Gulasch – laut Legende in Budapest erstmals für einen Herrn Székely gekocht, der sich nie zwischen Gulasch und Sauerkraut entscheiden konnte – feiern die beiden ihr Wiedersehen. Umgeben von grossformatigen Photographien des Brandenburger Tors oder des Berliner Fernsehturms. Hungerbühler haut ordentlich rein.

Das Gelage
Sosúa, Ostersamstag

Sosúa ist eine skurrile und wohl auch etwas degoutante Angelegenheit. Der «Ballermann der Karibik» war ursprünglich eine jüdische Kolonie. Trujillo – der, der sein Gesicht weiss anmalte – gab an, Juden vor der Verfolgung im Dritten Reich retten zu wollen. Er, der Rassist mit haitianischer Mutter, der in den 1930ern über 20 000 Haitianer am Grenzfluss Massacre (der hiess bereits von einem früheren Blutbad so) abschlachten liess. Mit den Schützlingen aus Europa wollte er «die dominikanische Rasse aufhellen». Es sollte ein karibischer Kibbuz werden. Die Juden kamen, doch nicht 10 000 wie erhofft, sondern knapp 700. Das Land war weder besonders fruchtbar, noch vermochten es die mehrheitlich intellektuellen Gäste aus Europa recht zu bewirtschaften. Immerhin leisteten sie Pionierarbeit und legten das Fundament für das heutige Sosúa.

Nach Kriegsende verstoben die hier Gestrandeten, so schnell es ging, Richtung USA oder Israel.

Hungerbühler und Arturo steuern auf eine Strandbar zu. Die Boxen chrosen, trotzdem dreht die Barmaid noch mal zünftig auf, als die beiden abhocken.

«Dos Cervezas porfavor!», lärmt Arturo und streckt energisch zwei Finger von seiner Hand.

Am Tisch daneben wird Domino gespielt. Einer schlägt mit einem Stein, den er querewäg hält, auf die im kleinen Holzständer aufgereihten, als würde das Glück bringen. Am Ende verliert er.

Die Mücken fressen Hungerbühler regelrecht, und die Mädchen umschwärmen ihn.

Eben sind zwei zugehockt, Orquidea und Wanda. Beide Mulattenschönheiten in viel zu engen Sachen, als dass er noch hätte klar denken können.

Orquidea, «ein eigentlicher Hungerhaken», wie sich Hungerbühler am späteren Abend um sie sorgen sollte, «Arturo, denkst du, es ist alles in Ordnung mit ihr? Die fällt ja fast aus dem Leim», trägt ein pinkes Top, auf das ein Ausschneidemuster mit roten Schuhen gedruckt ist. Dazu Jeanshotpants. Ihre gebleichten Haare krausen sich ob der meernahen Feuchtigkeit. Wanda ist noch knapper angezogen. Sie trägt ein kurzes Dunkelblaues, das weiss gepunktet ist. Ihre weibliche Fülle unterzieht das Kleid einem Stresstest, die Nähte drohen jeden Augenblick zu bersten. Das ist schon eher nach seinem Gusto. Hungerbühler weiss nicht wohin schauen.

«Wie läuft das hier, Arturo?», ruft er aufgeregt.

Doch Arturo ist auf einmal ganz weit weg. Selig taucht er ein, ins Bier, die Musik, die Stimmung. Lässt sich von den Wellen des eintretenden Rausches forttragen, auf eine Insel, zu der Hungerbühler keinen Zutritt hat.

Einer, der sich mit «Küse» vorstellt und Arturo zu kennen scheint, sitzt zu und bestellt lautstark eine Runde für alle.

Hungerbühler stösst ein begeistertes: «Ay que fiesta!» aus, Orquidea lächelt müde und streichelt über seinen Handrücken – «du bist einer der Guten».

Irgendwann nimmt Küse Orquidea an der Hand und sie verschwinden mit einem schroffen Gruss. Orquidea, «wie die Blume», hatte sie sich vorgestellt.


Pablo Haller
ist Schriftsteller und Performer. Zuletzt erschien von ihm die Groschenroman-Hommage «Piraten der Schildkröteninsel» («Das Narr» #23, 2017). Der vorliegende Text ist ein Vorabauszug aus seinem nächsten Roman, einem Karibik-Krimi.

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Illustration: Corinne Mock.
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