Ivna Žic: «Die Nachkommende»
Eine Reise in die Ungewissheit.
Die Menschen im Zug schwitzen unter den Achseln und wickeln belegte Brote aus. Eine Frau kratzt sich die Mückenstiche an den Beinen auf. Mit jedem Kilometer, den der Zug, in dem die junge Frau sitzt, von Paris Richtung Kroatien zurücklegt, bricht ein neues Kapitel ihres Lebens auf. Aus Fragmenten setzt sich nach und nach vieles zusammen: die Beziehung zu einem Mann, älter als sie, viel älter, einem Maler. Und verheiratet, was ihrer Beziehung die Asymmetrie verleiht: Er scheint zu kommen und zu gehen, wie es seinem Leben zugutekommt. Nur er darf sie anrufen, wenn ihm danach ist. Da ist auch der Grossvater, auch er ein Maler. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem er eine Familie gründet: Dann müssen die Gemälde weg – nur die Frau in Türkis bleibt an der Wand hängen. Da ist Frau Marijana, die einfache Fragen stellt in ihrer Wohnung, in der auch ein Gemälde hängt und die viel zu gross ist für sie alleine, eine Art Abfindung, und die Verben weglässt in ihren Sätzen, die man nicht aussprechen muss, weil man es schon weiss. Immer wieder findet sich die Protagonistin auf dem Ban-Jelačić-Platz, mitten in Zagreb, mittendrauf der General auf seinem Pferd, das die junge Frau auch mal durch die engen Gassen begleitet.
Ivna Žic malt die Vergangenheit grossflächig und doch präzise und so, als wäre man dabei, wenn die Protagonistin sich erinnert: «Die Sprache des Grossvaters kommt aus einem weissen Bart heraus, der das Gesicht versteckt, der den Mund umrahmt und die Worte dämpft, der sie abfängt, seine wahre Sprache blieb hinter den weissen Barthaaren hängen, […] eine Märchensprache blieb ihm übrig…», schreibt sie, und die anderen Personen sind nicht minder plastisch. Und doch haftet jeder ihr eigenes Geheimnis an, das sie mit ins Grab genommen hat oder noch nehmen wird. In Gerüchen, in Stimmen und anderen Erinnerungen setzen sie sich Stück für Stück zusammen, mit jedem Sommer auf der Insel etwas mehr.
Und auch der Krieg ist immer irgendwie da, das Weggehen von einem Ort, die Fremde, das Zurückkehren an ebendiesen Ort, der sich von Jahr zu Jahr verändert. Es ist eine Beschreibung ohne Bitterkeit, ohne Reue: Man nimmt die Tatsachen so, wie sie nun mal sind, man formt die Situation mit blossen Händen, so gut es geht. Lässt die Demütigung der Grenzkontrollen über sich ergehen, ebenso die Reise in die Ungewissheit, von der man sich einen Anfang verspricht, der nicht selten aber das Ende von vielem anderen ist.
Es ist ein leiser Roman, den Ivna Žic geschrieben hat, aber keinesfalls einer, der nicht gehört werden will. Žic ist nicht die einzige, die das Themenfeld Migration literarisch beackert – doch sie schildert den Spagat zwischen den Kulturen nicht als eine Zerrissenheit per se, sondern auch als Möglichkeit zur Veränderung, zum Neuanfang, zur Auseinandersetzung mit sich selbst, seinen Wünschen und Plänen. Und immer wieder ist da die Sehnsucht, die sich daraus ergibt, die an den Menschen zerrt und zehrt. Ganz weg sein wird sie nie – aber das ist wohl auch ganz gut so.
Ivna Žic: Die Nachkommende. Berlin: Matthes & Seitz, 2019.