Jürg Halter und Tanikawa Shuntarõ:
«Das 48-Stunden-Gedicht. Ein Kettengedicht»
Das Leise, das Zarte, das Zurückgenommene ist die Sache der Lyrik. Sie hat es nicht leicht in unseren Tagen. Umso dankbarer ist man für Texte wie «Das 48-Stunden-Gedicht», die mit genauer Auffassungsgabe etwas von der Urmagie der Dichtung ins Hier und Heute transportieren. Unternommen haben das Wagnis Tanikawa Shuntarõ und Jürg Halter. Gemeinsam verfassten sie ein Kettengedicht, das 48 Stunden umfassen und jede Stunde mit einer Strophe abdecken sollte. Tanikawa Shuntarõ schrieb die Strophen zu den geraden und Jürg Halter die Strophen zu den ungeraden Stunden.
Solche formalen Lockerungsübungen, solche Schritte weg vom Dichter-Ego lassen es zwischen den Zeilen funkeln. Eine Kostprobe? «Träumte in einem Boot kräftig zu rudern hinüber auf die unbewohnte Insel. Fraglich, ob ich selbst es bin, der rudert; der Traum verwirrt uns Menschen, denke ich, und betrete die Insel.» (Tanikawa Shuntarõ)
Ich schätze besonders die erzählende Gedichtsprache von Tanikawa Shuntarõ, der in einige seiner Strophen einen meditativen Hintersinn eingebaut hat, der an Zen erinnert. Es ist eine in Poesie überführte aphoristische Sprache, die nicht auf Erleuchtung schielt, aber diese stets anpeilt. Ebenso schätzenswert ist die Leichtigkeit, mit der sich Jürg Halter den zauberhaften Auftaktstrophen seines Dichterfreundes stellt: «So zu tun als ob, ist des Menschen grösste Freiheit – zu Hause in der Beklemmung.» (Jürg Halter)
In diesem Als-ob ist zugleich verfasst, was ein Kettengedicht nicht sein kann – und nicht sein will: ein Gedicht aus einem Guss, Ausleuchtung eines Themas oder Hervorbringung eines autonomen Willens. Was weiss der eine Dichter schon davon, was der andere ihm da zur vollen Stunde vorlegen wird? Gut, immerhin haben die beiden bereits 2012 mit «Sprechendes Wasser» ein Kettengedicht veröffentlicht. Die Frage aber bleibt: In welcher Spielart der Lyrik kann man sonst die zeitlose Schönheit einer gelungenen Schachpartie erreichen, bei der man im Nachhinein ja auch von Motiven spricht? Der letzte Satz von Jürg Halter hat dann tatsächlich etwas von einem Schachmatt, indem er dieses Spiel kurzerhand mit der Verkündung eines neuen «ersten Schrittes» beendet.
Bis es so weit ist, folgt man einer aufgefächerten Zeitstruktur, einfach und tiefsinnig zugleich, die zu nächtlicher Stunde, Stunde des wahren Gefühls, anregend zwischen Traum und Wirklichkeit wandelt. Und die immer wieder für kurze Momente von Zeichnungen der japanischen Künstlerin Tabaimo und des Schweizer Künstlers Yves Netzhammer unterbrochen wird. Herausgekommen ist ein Werk des gegenseitigen Respekts, geprägt von einer Kultur des Staunens. Was will man mehr?
Jürg Halter und Tanikawa Shuntarõ: Das 48-Stunden-Gedicht. Ein Kettengedicht. Deutsch und Japanisch. Göttingen: Wallstein, 2016.