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Kann jemand schreiben, bevor er gelebt hat?
Silvio Huonder, fotografiert von Menga Huonder.

Kann jemand schreiben,
bevor er gelebt hat?

Ein Plädoyer für höhere Anforderungen am Schweizerischen Literaturinstitut – und für reifere Studierende.

«Die Welt gehört in Kinderhände», singt Herbert Grönemeyer in seinem Lied «Kinder an die Macht». Gilt das auch für die Literatur?

In einem Artikel über schreibende Kinder lässt die FAZ1 die neunjährige Franca zu Wort kommen: «Es ist halt so gewesen, dass ich irgendwann einfach mal Lust hatte, in ein Heft zu schreiben. Und dann habe ich später gemerkt, dass ich es ja auch veröffentlichen und dafür Geld kriegen kann, denn ich spare auf ein Pferd.»

Im Schweizerischen Literaturinstitut, 2006 als Studiengang «Literarisches Schreiben» der Hochschule der Künste Bern gegründet und beheimatet in einer romantischen Villa in Biel, würden sich die Studierenden die Bezeichnung «Kinder» verbieten, obwohl Debütierende bekanntlich noch im fortgeschrittenen Alter als junge Autoren gelten. Jung bedeutet eben jung im Geschäft. Der Altersdurchschnitt im Literaturinstitut ist tatsächlich niedrig: Der grössere Teil der Studierenden in Biel ist Anfang bis Mitte zwanzig, über die Hälfte von ihnen kommt ohne Umwege direkt aus dem Gymnasium. Nur der kleinere Teil hat vorher einen Beruf erlernt, gearbeitet oder bereits ein anderes Studium absolviert. Worüber wollen diese jungen Leute denn schreiben? Kann jemand schreiben, bevor er gelebt hat?

Der grössere Teil der Studierenden in Biel ist Anfang bis Mitte zwanzig.

Die Haltung dieser Studierenden ist durchaus mit der von Gymnasiasten zu vergleichen. Sie orientieren sich an ihrem Stundenplan und tun mehr oder weniger, was von ihnen verlangt wird. Wenn nicht, dann haben sie jugendtypische und fadenscheinige Erklärungen für Unpünktlichkeit, Abwesenheiten und nicht gemachte Hausaufgaben (Mail-Account gesperrt, Computer abgestürzt, Termin verwechselt, Zug verpasst etc.) und zeigen in der Gruppe ein teenagerhaftes Verhalten. Zum wichtigsten Punkt in der bisherigen Biografie zählt manchmal bereits der Urlaub mit den Eltern. «Haben wir morgen Schule?», fragte nach einer Textdiskussion eine junge Studentin. Wenige Zeit später war ihr Debüt für den Schweizer Buchpreis nominiert.

Seit der Gründung des Literaturinstituts arbeite ich dort als Dozent und Mentor, habe an seiner Akkreditierung mitgewirkt, daneben an der Universität der Künste Berlin (UdK) als Gastprofessor unterrichtet und die Schreibklasse am Schauspielhaus Wien geleitet. Meine persönliche Vorliebe galt dabei immer den älteren Studierenden. Ich halte wenig davon, junge Menschen dahingehend zu animieren und zu locken, das
Schreiben zu ihrem Beruf zu machen. Wer nicht anders kann, wird früher oder später von selbst damit beginnen und es auch nicht mehr lassen. Wer dann schreiben will, hat Unterstützung verdient und oft auch jenseits der dreissig noch nötig.

Jugendwahn in der Literatur

Rat und Hilfe sind am Schweizerischen Literaturinstitut in hoher Dosierung zu bekommen. Von erfahrenen Autorinnen und Autoren, von Literaturwissenschaftern und Menschen aus allen Bereichen des Literaturbetriebs. Dabei habe ich, wie die meisten unserer Dozierenden, keine pädagogische Ausbildung vorzuweisen. Ich bin kein Lehrer, und das Institut ist keine Schule. Was das Schreiben und Publizieren angeht, habe ich einen gewissen Erfahrungsvorsprung und diskutiere gern über vorhandene oder fehlende Qualitäten in der Literatur und über ihre Entstehungsbedingungen, ausserdem habe ich ein gewisses Mass an empathischen Fähigkeiten. Da mich jeder neue Text regelmässig vor dieselben Schwierigkeiten stellt, Erzählperspektive, Ton und Rhythmus zu finden, kann ich mich gut in eine Person hineinversetzen, die schreiben möchte und daran zweifelt.

Wer nichts zu sagen oder zu schreiben hat,

muss das ja auch nicht unbedingt tun.

Dass jemand seine Fragen an die Welt schriftlich mitteilen will, sollte jedoch die Grundvoraussetzung für ein Studium des literarischen Schreibens sein. So etwas sollte nicht mit einem Bildungsangebot künstlich geweckt werden. Wer nichts zu sagen oder zu schreiben hat, muss das ja auch nicht unbedingt tun. Als Mitglied der Aufnahmekommission in Biel habe ich Dossiers mit Biografien, Motivationsschreiben und Arbeitsproben gelesen und in den halbstündigen Bewerbungsgesprächen herauszufinden versucht, wie nachhaltig der Wunsch zu schreiben sein könnte. Immer wieder schaffen es junge Menschen, trotz der sorgfältigen Aufnahmeprüfungen, ohne diese Grundvoraussetzung aufgenommen zu werden. Hinterher zeigt sich dann, dass sie eine recht vage Vorstellung vom Autorendasein haben und es einfach mal versuchen, als eine Möglichkeit von vielen. Ermuntert vom Deutschlehrer, den Eltern oder den Erfolgen junger Absolventen. Irgendwas muss man nach der Matura ja tun. Dann sitzen sie schweigend da, schauen einen mit grossen Augen an und lassen sich die Würmer aus der Nase ziehen. Auffallend ist auch, wie wenig vor Antritt des Studiums allgemein gelesen wird. Lesebiografien speisen sich aus gymnasialen Pflichtlektüren wie Frisch und Dürrenmatt, vielleicht noch angereichert durch Rowling und Tolkien. Der sprachliche Ausdruck lässt oft zu wünschen übrig, sogar die Orthografie ist mangelhaft und die Beschäftigung mit Studierenden verkommt manchmal zum Nachhilfeunterricht im Fach Deutsch.

Je jünger die Bewerberinnen und Bewerber sind, desto schwieriger ist es für eine Aufnahmejury, zwischen unreflektierter Neigung und ausgeprägtem Schreibwillen zu unterscheiden. Trotzdem werden in Biel bevorzugt junge Leute aufgenommen. Ist es die Angst der Dozierenden, sich nach der Aufnahme mit erwachsenen Leuten auseinandersetzen zu müssen? Die vielleicht schon bald mehr wissen und können als sie selbst? Müssen vielleicht andere Dozierende her, um andere Studierende zu bekommen?

Der Grund für die jugendliche Zusammensetzung der Studentenschaft liegt nur zum Teil beim Literaturinstitut. Unsere Gesellschaft leidet insgesamt an einem Jugendwahn. Neuen Gesichtern wird im Literaturbetrieb ein Medienhype beschert, den die Texte nicht wirklich verdienen. Es geht dabei mehr um die Fähigkeit zum Autorendarsteller mit besonderem Aussehen oder anderen interessanten Attributen als um die Qualität der literarischen Erzeugnisse.

Was ist es, was uns an sogenannten Wunderkindern so fasziniert? Projizieren wir unsere Sehnsucht nach dem grossen, reinen, nicht vom Markt korrumpierten Talent auf sie? In der Musik gibt es das schon länger. Mozarts Vater war für seinen Drill bekannt. Auch hinter literarischen Wunderkindern wie Benjamin Lebert oder Helene Hegemann stehen branchenerfahrene Elternteile, die sie beraten haben.

Das Literaturinstitut hat den Jugendwahn nicht erfunden. Es bedient ihn nur. Und es öffnet Möglichkeiten für jene, die selbst keine Förderer im familiären Umfeld haben – das ist zweifellos ein Gewinn. Es gibt keine besseren Orte, wo so konzentriert, intensiv und lange darüber diskutiert werden kann, wie sich das eigene Schreiben entwickeln muss, um in der Öffentlichkeit «Literatur» genannt zu werden.

Kuschelpädagogik in Biel

Das Schweizer Literaturinstitut unterscheidet sich in mancher Hinsicht von der Konkurrenz in Berlin, Leipzig, Hildesheim, Wien und seit neuestem auch Köln. Die Zweisprachigkeit ist in Biel ein wichtiger Faktor. Zu Beginn argwöhnisch beäugt, kommen jedes Jahr mehr Bewerber aus dem frankophonen Raum. Auch den Schweizer Dialekten wird viel Platz gewährt. Ausserdem gibt es in Biel einen leichten Frauenüberhang bei den Studierenden und einen deutlichen bei den Angestellten und der Leitung des Studiengangs. Vielleicht sind deswegen anlässlich der Sexismusdebatte an Schreibschulen keine Vorwürfe aus Biel gekommen. Die ersten dreizehn Jahre des Schweizerischen Literaturinstituts sind gekennzeichnet von Konsens, Harmonie, Fairness und politischer Korrektheit. Das mögen positive Eigenschaften sein. Es fehlen aber leidenschaftliche Debatten, heftige Auseinandersetzungen und Positionskämpfe, welche die Herausbildung literarischer Haltungen befördern können. Die Anforderungen an das Bachelor-Studium in Biel sind niedrig, der Aufwand für die Studierenden hält sich in Grenzen. Von Kuschelpädagogik zu sprechen, ist durchaus passend.

Trotzdem hat das Literaturinstitut eine beeindruckende Erfolgsbilanz vorzuweisen. Die Absolventinnen und Absolventen werden vom Literaturbetrieb mit offenen Armen empfangen. Sie veröffentlichen Bücher, werden an Theatern gespielt, räumen Förderstipendien und Preise ab, besetzen Stellen beim Radio, arbeiten für Printmedien oder studieren weiter. Drei von fünf Nominierten für den Schweizer Buchpreis waren im vergangenen Jahr Absolventen des Literaturinstituts, zwei von ihnen habe ich als Mentor selbst betreut. Ich könnte also stolz sein, mich zurücklehnen und behaupten, dass wir alles richtig machen.

Von Kuschelpädagogik zu sprechen, ist durchaus passend.

Aber ist das so? Es bleibt der hartnäckige Zweifel, ob wir damit nicht Sehnsüchte wecken, die auf Dauer nicht befriedigt werden können. Um die Medien und das Publikum muss sich niemand Sorgen machen, die finden ihr Fressen immer und überall. Aber was werden all die reüssierenden Debütanten in zehn oder zwanzig Jahren tun? Im Hinblick auf eine langfristig angelegte literarische Nachwuchsförderung wäre es sinnvoller, die Anforderungen zu erhöhen und auf reifere Studierende zu setzen, bei denen der Wille zum Schreiben stärker ausgeprägt ist.

 

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