Lese-Highlights 2018
Die Lieblingsbücher der Redaktion im zu Ende gehenden Lesejahr.
Tipps von Stephan Bader, Redaktor:
Elisa Shua Dusapin: «Ein Winter in Sokcho»
Müsste ich nur ein Buch empfehlen, dann wäre es dieses. In der südkoreanischen Küstenstadt Sokcho ist es nur im Hafen laut, die weite Welt ist hier nicht gross, sondern kalt, dumpf und grau. Es ist nichts los, und auch zwischen der leicht verhuschten Ich-Erzählerin und dem melancholischen Zeichner entsteht nicht mehr als ein flüchtiges Flackern. Aber dafür hat Elisa Dusapin genau die passende, schlichte und doch wunderschöne Sprache gefunden. Es ist zu hoffen, dass auch Dusapins ebenso gelungener Zweitling «Les Billes du Pachinko» bald auf Deutsch vorliegt. Vorsatz 2019: mehr Romand(e)s lesen! (Erschienen bei Aufbau.)
Thomas Hürlimann: «Heimkehr» und Urs Zürcher: «Alberts Verlust»
Eine Landstrasse, Nebel, das Auto überschlägt sich und landet im Wasser, Gedächtnisverlust des Protagonisten. So beginnen sowohl Thomas Hürlimanns «Heimkehr» als auch «Alberts Verlust» von Urs Zürcher. Sie sind darüber hinaus völlig verschieden, für mich haben sie aber noch etwas Weiteres gemeinsam: Ich kann Bücher durchaus «nur» wegen der starken Erzählung oder «nur» wegen der Originalität, Fülle, Präzision der Sprache lesen – diese zwei bedienen beide Antennen aufs Beste. Und beim bilgerverlag gibt’s jeweils sogar noch was für die Umschlagästheten obendrauf. («Heimkehr» ist bei S. Fischer, «Alberts Verlust» beim bilgerverlag erschienen.)
Eleonore Frey: «Waldleute»
Zwanzig Menschen jenseits der Siebzig gehen gemeinsam in den Wald, und ihre Erinnerungen, ihr Wissen, ihr Wollen verschwimmen und verblassen immer mehr. Ein ergreifendes Stück über die vielleicht schwerste Aufgabe im Leben: es irgendwann loszulassen – und für mich das Highlight des Frühjahres. (Bei Engeler erschienen.)
Dominic Oppliger: «acht schtumpfo züri empfernt»
Auch wenn’s keine festen Regeln gibt: Man kann auch auf Mundart richtig und falsch schreiben. Aber wie ist es am richtigsten? Diese Frage beschäftigt mich schon lange. Dominic Oppliger geht, eigentlich ja naheliegend, extrem konsequent nach dem Klang und punktet bei mir damit, z.B. mit dem Verschmelzen zweier Wörter zu einem, siehe «schtumpfo» im Titel. Die Geschichte selbst, die jeder halbwegs urbane Leser so erlebt haben könnte, liest sich auch gut, in anderthalb Stunden ist man durch und kann sich wieder mit den Sprachfragen beschäftigen. Was ich sehr getan habe, gerade auch an den Stellen, wo ich anders als der Autor verschriftlicht hätte. (Erschienen beim Verlag Der gesunde Menschenversand.)
Tipps von Laura Clavadetscher, Redaktorin:
Bachmann/Enzensberger: «schreib alles was wahr ist auf»
Bis wir dereinst Einblick in die briefliche Korrespondenz von Max Frisch und Ingeborg Bachmann erhalten, müssen wir uns die Zeit vertrösten – seit diesem Jahr können wir das mit dem Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger. Die Edition gewinnt vor allem, indem sie den literarhistorischen Personae der beiden Dichter bislang wenig bekannte Aspekte hinzufügt: Enzensberger, sonst als Filou der deutschen Nachkriegsliteratur verschrien, zeigt sich hier als poetisch leidender Liebhaber in absentia, Bachmann dagegen offenbart sich plötzlich in selbstironischen Volten und bezeugt, wenn auch dezent, ihre spielerische Natur. Anlass genug, beider Werke unter diesen Gesichtspunkten neu zu durchforsten. (Erschienen bei Suhrkamp)
Donald Antrim: «Mutter»
Die Romane und Erzählungen von Donald Antrim sind komisch bis zum Ulk, formal kühn, immer hochintelligent – und haarsträubend unsentimental. Wer wissen will, woher diese literarische Hartherzigkeit kommt, lese «Mutter», ausdrücklich «Kein Roman», wie der Untertitel verrät. In diesem bereits 2006 erschienenen Buch schildert Antrim das unbarmherzige Leben unter einer vom Alkohol angeschlagenen und moralisch ramponierten Mutter, deren Erbe für den Sohn vor allem ihr eklatanter Selbsthass war. Diesen Umgang übersteht man nicht mit Weichherzigkeit – aber, wie Antrim in seinem Buch beweist, mit Intelligenz, Kühnheit und Humor. (Erschienen bei Rowohlt.)
Nell Zink: «Der Mauerläufer»
Tiffany, die Hauptfigur in Nell Zinks Roman «Der Mauerläufer», besticht mit der sympathischsten Eigenheit zielloser Menschen: mit engagiertem Nichtstun. Bis die Passion ihres Freundes, die praktizierte Vogelkunde, eine Schwangerschaft beendet. In der Folge entdeckt Tiffany eigene Leidenschaften, insbesondere den anarchistischen Naturschutz. Nell Zink, deren dritter Roman «Nikotin» 2018 ins Deutsche übersetzt wurde, gelingt hier eine singulär amüsante, originelle und unrührselige Entwicklungsgeschichte einer Protagonistin, die zum Blueprint eines neuen literarischen Frauentypus taugt. (Erschienen bei Rowohlt.)
Tipps von Alicia Romero, Redaktorin und Produzentin:
Sven Regener: «Wiener Strasse»
Auch wenn ich gern von mir behaupte, ich besässe keinen Humor – Sven Regener gelingt es jedes Mal, dass ich laut lachen muss. Auch «Wiener Strasse» (erschienen bei Galiani) ist zum Brüllen komisch: Im 80er-Jahre-Berlin schlägt sich eine Truppe von Versagern mehr schlecht als recht durchs Leben. Darunter: Erwin, Besitzer des «Café Einfall», Frank Lehmann, der die Klos putzt und meine Lieblingsfigur H. R. Ledigt, ein «Extremkünstler», der mit einer Kettensäge Bäume in den Berliner Strassen plattmacht. Um das ganze Buch auf den Punkt zu bringen: «Auf der Wiener Strasse wurde es schon dunkel, vor allem aber war es nass und unter dem Herbstlaub, das die jetzt völlig kahlen Strassenbäume hatte fallen lassen, verbarg sich tückisch die Hundescheisse.»
Alfred Lansing: «635 Tage im Eis. Die Shackleton-Expedition»
Wir schreiben das Jahr 1914: die Crew von Sir Ernest Shackleton macht sich auf, um als erste die Antarktis zu überqueren. Doch die ehrgeizigen Pläne scheitern, bevor die insgesamt 29 Männer überhaupt die erste Etappe bis zur Vahsel-Bucht schaffen: ihr Schiff bleibt im Packeis stecken und wird nach und nach davon zermalmt. Haarsträubend ist die wahre Geschichte, die Alfred Lansing in diesem Klassiker von 1959 erzählt. Dafür wurden dem amerikanischen Schriftsteller und Journalisten alle damals geführten Tagebücher der Crew zur Verfügung gestellt und zahlreiche Interviews mit den Überlebenden geführt. Denn – man möge es kaum glauben – es gelang Shackleton, alle Männer heil wieder zurückzubringen. Die Abenteuerfahrt ist auf jeden Fall die perfekte Lektüre für kalte Wintertage. (Erschienen bei Goldmann)
Tipps von Katja Schönherr, Redaktorin und Projektleiterin Online:
Robert Seethaler: «Ein ganzes Leben»
Ein schmaler Roman für ein ganzes Leben: das des Hilfsknechts Andreas Egger, der zwar hinkt, aber am Berg gerade steht. Unaufgeregt, leise und mit Mut zum Weglassen hat Robert Seethaler diesen Text geschrieben. Ideale – und sehr empfehlenswerte – Lektüre für einen Aufenthalt in den Alpen. (Erschienen bei Hanser Berlin.)
Daniela Krien: «Irgendwann werden wir uns alles erzählen»
Ich weiss gar nicht, wieso ich erst jetzt auf diesen Roman gestossen bin, der bei seinem Erscheinen im Jahr 2012 sofort und völlig zu recht ein grosser Erfolg wurde. Das Buch ist beeindruckend. Wer in einer solch klaren Sprache schreibt, wie Daniela Krien es hier getan hat, der hat auch nichts, wohinter er sich zu verstecken versucht. So gut! (Als Taschenbuch erschienen bei List.)
Lucy Fricke: «Töchter»
«Na, dann wollen wir mal!» Eine Road-Novel über zwei Frauen; beide in den Vierzigern, beide mit dem Abschied von ihren Vätern beschäftigt. Ein tragikomisches und sehr unterhaltsames Buch. Was Lucy Fricke besonders gut kann: Gefühlsregungen zerlegen, ihnen auf den Grund gehen und damit in die Tiefe. (Erschienen bei Rowohlt.)
Tipps von Michael Wiederstein, Chefredaktor:
Eckhart Nickel: «Hysteria»
Demeter und Mordio! Deutschland wird denaturiert und nie war Dystopie so lustig, geistreich und gleichzeitig eingängig. Und nur selten zuvor hat man derart genussvoll die Lieblingsobsessionen der Deutschen – Wald, Verschwörungen und Fundamentalismus – lesend verachten dürfen. Nickel als Romancier? Wunderbar! Und hübsch auch, dass schon im kommenden Jahr ein Essayband zum «Schönen» von ihm erscheint. (Erschienen bei Piper.)
Nickolas Butler: «Die Herzen der Männer»
Ein Pfadfinderlager irgendwo im US-amerikanischen Nichts. Ein junger Trompeter, der zuerst in diese härteste Schule des Lebens geht, dann Vietnam überlebt und irgendwann wieder hierher zurückkehrt, um zumindest einen anständigen Tod zu sterben. In drei grossen Kapiteln zeichnet Nickolas Butler das jüngste Sittengemälde des «Landes der Freiheit», dem Anstand und Format (ergo: Freiheit) irgendwo zwischen New Deal und Trump verlorengehen. Präzise, anrührend, beängstigend. (Erschienen bei Klett-Cotta.)
Robert Bösch: «Mountains»
Ich mag ja Bücher, mit denen man zur Not auch schlecht erzogene Gäste erschlagen kann – umso lieber habe ich sie aber, je mehr Berge darin formschön abgelichtet (oder: hinter Wolken nur erahnbar) sind. Robert Böschs neuer Prachtband erreicht Höchstpunktzahlen in beiden Kategorien, ja mehr noch: er ist da am besten, wo gar keine Gipfel (oder: Nebel) zu sehen sind, sondern nur felsige Ecken, Kanten; sich darüber krümmende Gelenkkuppen und darunter auftuende Abgründe. (Erschienen bei National Geographic.)