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Mit 50 zum  literarischen Shootingstar
Nell Zink, fotografiert von Marcel Maffei.

Mit 50 zum
literarischen Shootingstar

Auch wer ohne Ziel unterwegs ist, kann plötzlich ankommen: Wie es ist, wenn man sich über Nacht als arrivierte Autorin wiederfindet.

Frau Zink, Ihr erstes Buch haben Sie als Fünfzigjährige ­veröffentlicht, obwohl Sie schon als Kind geschrieben haben. Wie hat sich Ihr Leben mit dem unvermittelten Durchbruch ­verändert?

Früher stellte sich die Sinnfrage in meinem Leben kontinuierlich. Ich litt an klassischer existenzieller Angst, weil ich für die Schublade geschrieben habe und dafür ausser von ein paar Freunden keine Anerkennung, keine Bestätigung erhielt. Ich nahm in keinerlei Weise teil am literarischen Geschehen, an der kulturellen Welt, die komplett unerreichbar über mir schwebte. Dass ich jetzt daran teilnehme, ist für mich, als sei das Puzzle meines Lebens endlich gelöst.

Wann wurde Ihnen das bewusst?

Als ich in New York zu meiner allerersten Lesung gefahren bin und zusammen mit Jonathan Franzen völlig entspannt und zufrieden im Taxi sass. Er fragte: «Hey, bist du denn gar nicht nervös? Du fährst immerhin zur ersten Lesung deines Lebens.» Und ich sagte: «Weisst du, mein ganzes bisheriges Leben hat mich nervös gemacht, verunsichert, war die Hölle auf Erden. Jetzt, da ich positive Kritiken in der ‹New York Times› bekomme, ist es endlich nachvollziehbar geworden. Alles wurde vom Kopf auf die Füsse gestellt!»

Franzen hat Sie quasi zu Ihrem Debütroman genötigt, nachdem Sie einen Mailwechsel begonnen hatten. War er auch ein literarisches Vorbild?

Meistens ist er brillant, manchmal weniger brillant – «Unschuld» war ein bisschen auf Philip-Roth-Niveau (lacht). Franzen hat ungeheuer viel Talent, Können und ein Gewissen. Unsere gemeinsame Agentin und ich sagen ihm immer: «Was Kurzes schreiben! Schreib endlich mal einen Roman von zweihundert Seiten, den man auch in Schulen oder an der Uni lesen könnte, ohne Schnickschnack, ohne viel zu viel Hintergrund.» Das schafft er nicht. «Nee, achthundert Seiten», sagt er, «das ist mein Format.»

Ich habe den Eindruck, er hat immer die Sorge, nicht ­verstanden zu werden. Diese Sorge haben Sie, glaube ich, ­weniger stark.

Ich gehe davon aus, dass man mich nicht versteht. Und freue mich immer, wenn es doch klappt. Franzen hat die Tendenz, unglaublich verschnörkelt zu schreiben. Er begeistert sich ja für Karl Kraus und würde gerne ebenfalls alles über Ecken und Enden und Ironien und Implikationen machen. Im Grunde schreibt er wie ein Deutscher. Amerikaner stellen an den Anfang jedes Absatzes einen Einleitungssatz, der den Hauptgedanken zusammenfasst. Franzen bringt erst Argumente vor und sein Schluss kommt am Ende, deshalb wird er von Amerikanern oft falsch verstanden. Die lesen den Anfang und denken, es gehe um etwas ganz anderes. Er wird nicht verstanden, deshalb ist er immer so in Rage und kann seine eigenen Rezensionen nicht lesen.

Ihr Roman «Mislaid» ist bereits 2015 auf Englisch erschienen, nun erscheint er unter dem Titel «Virginia» auf Deutsch. Ist es für Sie wichtig, wie er aufgenommen wird, oder ist das Thema für Sie abgeschlossen?

Ich lebe ja in Deutschland, und meine Freunde lesen viel lieber die deutsche Ausgabe als die englische. Die anderen Sprachen sind mir, ich will nicht sagen, egal, aber nicht so wichtig. Es freut mich, dass das Buch auf Italienisch, Spanisch, Französisch oder Holländisch erscheint, aber die deutsche Ausgabe ist für mich das eigentliche soziale Ereignis, bei dem meine Freunde mich wahrnehmen.

Sie wohnen immer noch in einer Einzimmerwohnung. Haben Sie kein Vergnügen daran gefunden, Ihre Tantiemen auszugeben?

Finanziell kommt ja an Vorschüssen schon einiges zusammen. Ich habe ein bisschen rumexperimentiert, was Spass, was weniger Spass macht beim Geldausgeben. Und dabei festgestellt, dass man die eigenen Gewohnheiten nicht so leicht ändern kann: einmal untere Mittelschicht, immer untere Mittelschicht. Gestern hab ich zum Beispiel im Coop-Restaurant zu Mittag gegessen und war total glücklich. Das ist ja im Grunde Diner Food, nicht? Und dieses Hotel hier: keine Wanze weit und breit! Heute Nacht bezahle ich das Zimmer selber und es tut absolut nicht weh. Es passiert nichts. Und diese Schmerzlosigkeit, wenn man Geld hat, es gar kein Schicksalsschlag mehr ist, wenn eine grosse Rechnung kommt – das ist so schön, das kann ich nur ­empfehlen.

Sie haben gesagt, dass Sie von den erzählerischen ­­Konventionen heutiger Romane nicht allzu viel halten und ­«Virginia» nach dem Vorbild der Wiener Operette aufgebaut haben. Gibt es etwas, das Ihnen an der Gegenwartsliteratur besonders missfällt?

Es ist mittlerweile so ein breites Feld, dass man nur über spezifische Romane etwas Konkretes sagen kann. Aber natürlich gibt es kommerzielle Leitbilder, und Belletristik als Kategorie ist kommerziell – die soll sich verkaufen. Nicht wie diese Miniauflagen geisteswissenschaftlicher Professoren, die etwa achthundert Exemplare ausmachen und dazu da sind, ihre Stelle an der Uni zu sichern. Nein, es sollen dann schon 40 000 Exemplare über den Ladentisch gehen, und das führt dazu, dass der «revolutionäre Ansatz» von den Verlagen nicht unbedingt bewusst gefördert wird. Ich habe grosses Glück, weil ich bei Harper Collins bin, einem Tochterunternehmen von News Corp, also von Rupert Murdoch, dem auch Fox News gehört. Das sind meine Arbeitgeber (lacht). Denn: Ich bin ein ganz, ganz kleiner Fisch im grossen Meer von News Corp, und Murdoch ist es wirklich schnurzpiepegal, was ich mache – aber er hat das Geld, um mich zu subventionieren. Alle «kommerziellen» Bücher und Modelle schlechtzumachen, würde mir schlecht anstehen, denn das ist ja alles Teil desselben Ökosystems.

Was ist mit erzählerischen Mitteln, die man in der ­Gegenwartsliteratur beobachten kann und von denen Sie ­vielleicht denken: Das ist überholt.

Es gibt zu viele Dinge, die für mich überholt sind – einfach, weil ich 55 bin. Wie ich dazu stünde, wenn ich einundzwanzig wäre, kann ich nicht wissen. Um 1975 herum, als mein Geist anfing sich zu formen, war die Einwanderung in den USA auf einem historischen Tiefpunkt angelangt – fast alle Einwohner sind also mit einer gemeinsamen Sprache aufgewachsen. Bei der jungen Generation, den Millennials, ist es anders. Sie schreiben anders, haben oft aufgrund der neuen Medien viel weniger gelesen und auch nicht mehr dieselben Ansprüche an die Unterhaltungsliteratur. Ein Trend, den man vielleicht bemerken kann, ist der, dass englische Muttersprachler und das rein Erzählerische nicht mehr so im Mittelpunkt stehen wie früher. Das sehe ich auch in der deutschen Literatur: Bücher gehen heute trotz schlechten Deutsches durch, nur weil jemand «etwas zu sagen» hat.

Weil die Autoren dieser Bücher eine Geschichte haben?

Sie haben eine Geschichte, weil sie aus einem fremden Land stammen und von aussen einen interessanten Blick auf die Gesellschaft werfen. Die Mittelschichtler aus den USA beispielsweise haben dadurch einen schlechten Stand, weil ihnen dieses hohe Belletristische fehlt, das sie nie kennengelernt haben, aber trotzdem «intellektuell» wirken wollen. Und das fällt flach. Dann kommt ein Autor wie Chigozie Obioma und schreibt über ein Fischerdorf an einem See, und das ist sofort spannender als das, was sie zu sagen haben, weil es authentisch wirkt. Diese Authentizität – oder: was man für authentisch hält – ist, glaube ich, gerade sehr stark gefragt.

Wie wirkt sich das sprachlich aus?

Wenn man etwa Roberto Saviano in der Übersetzung liest, sieht man diese kurzen, prägnanten Sätze, die ein deutscher Muttersprachler so nicht schreibt. Wer sich jemals mit deutscher Literatur beschäftigt hat, schreibt keine Sätze, die aus zwei Worten bestehen. Oder zumindest war das so. Eine Freundin von mir, zehn Jahre jünger als ich, hat ihren Abschluss an der Uni München in kreativem Schreiben gemacht. Sie war die Älteste, die anderen Studenten waren Mitte 20. Die konnten ihr Deutsch nicht lesen. Hielten das für völlig verkopft, was sie schreibt – für sie war es einfach nur Deutsch (lacht).

In Deutschland, vor allem in den Nullerjahren, hatte gerade diese Verknappung im kreativen Schreiben Hochkonjunktur – nicht nur an den Literaturinstituten. Da galt: keine Adjektive, nicht umständlich, klar auf den Punkt – schreib nur das, was du mitzuteilen hast, und nichts darüber hinaus. 

So Raymond-Carver-mässig.

Ja, Carver war das Vorbild. Beziehungsweise: sein Lektor.

Deutschland macht jeden amerikanischen Trend mit, es dauert nur zwanzig Jahre. Die Popliteratur ist ein gutes Beispiel dafür. Und ich glaube, im Prinzip gibt es heute in den USA etwas anderes als Popliteratur gar nicht.

Kommen wir zu Ihrem eigenen Werk. Ein Leser schreibt
über «Virginia»: «Es gibt in diesem Buch so viele erstaunliche Zufälle, dass es für drei oder mehr Shakespeare-Stücke ­ausreichen würde.» Sind Sie mit diesem Eindruck einverstanden?

In einem Satz: Ich bin zufrieden. Es ist nicht so, dass meine Lieblingskunstwerke in der Form alle realistisch sind. Wenn ich meinen Lieblingsfilm «Gigi» ansehe, dann nicht, weil ich ihn für besonders glaubwürdig halte, sondern weil Komödien seit den Römern die Funktion haben, über Zufälle und Fügungen ein Happy End zu erzeugen. Und an dieses Modell habe ich mich angelehnt.

Ein weiterer Lesereindruck: «Das Buch liest sich wie eine Abschlussarbeit in kreativem Schreiben, die ein brillanter Bummelstudent unter dem Einfluss einer Kiste Energy-Drinks runtergeschrieben hat.»

Das war wahrscheinlich der blanke Neid – eines Studenten in kreativem Schreiben (grinst).

Eines Studenten, der die Energy-Drinks hat, aber nicht die Brillanz?

Energy-Drinks wären schön! Nein, was die haben, ist Speed! Der Drogenverbrauch unter den Schriftstellern, die ich in Brooklyn kennengelernt habe, war eine Sache für sich. Meine Freunde in Berlin sind auch schon mindestens vierzig und gehen auf wilde Rave-Sex-Partys in einem Schloss im Wald, die das ganze Wochenende dauern – aber die nehmen keine Drogen und gehen danach schlafen (lacht). Aber, ja, Energy-Drinks, das ist ein Euphemismus. Und was den Neid betrifft: Mein Buch wurde deswegen bekannt, weil es gleichzeitig mit einem New-Yorker Profil herauskam. Danach gab es natürlich keinen Grund mehr für irgendjemanden, mich zu loben. Alles Lob war schon gedruckt.

Es gab auch den Vorwurf, Sie seien in «Virginia» auf zu wenig respektvolle Weise mit dem Thema Rassismus umgegangen. 

Es gibt – und das meine ich jetzt todernst – Umstände, die einfach Realsatire sind. Rassisten gehen oft bewusst genau so vor, dass das Opfer unglaubwürdig wird. Wenn ein Polizist in den Südstaaten einen Schwarzen in Gewahrsam hat und ihm ein paar Mal ins Gesicht schlägt, hat er ein Problem. Wenn er ihm Seife in den Arsch schiebt und ihn anschreit, er solle seine Innereien waschen, kommt nicht der Polizist in die Klapse, sondern der Schwarze, falls er das jemandem erzählt. Und es war bei den Verbrechen der Nazis nicht anders. Sie waren nicht plausibel.

Wer Tatsachen literarisch beschreibt, gilt demnach mitunter als unglaubwürdig, wenn er sich nicht den zeit­geistigen Codes unterwirft?

Ich habe Schwarze gekannt, die auf dem Land mehr oder weniger wie Leibeigene lebten. Sie gehörten einfach zum Grundstück dazu, hatten weder eine Geburtsurkunde noch einen Ausweis, konnten nicht wählen, hatten keine Adresse. Sie existierten nur. Und sie lebten zum Teil im Wald, obwohl sie in Williamsburg, wo ich herkomme, nach dem Bürgerkrieg riesige Ländereien erhalten hatten. Das wird im Roman direkt thematisiert. Wissen Sie, wann sie dieses Land verloren haben? In den 1950er Jahren kam man auf die Idee: Wenn wir eine Militärbasis errichten, die sich über zwei Countys erstreckt, kann die Bundesregierung allen Schwarzen das Land wegnehmen und auf diesen wunderschönen Grundstücken, die Millionen wert sind, «Militärbasen» bauen, die ausschliesslich aus wunderschönen Villen bestehen. Es gibt Schwarze, die den Bundesstaat Virginia besitzen müssten, aber ihnen wurde mit wenig plausiblen, hirnrissigen Methoden alles genommen.

Ganz ehrlich? Die Beziehung eines Erwachsenen mit einer 11-Jährigen wird von Ihnen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit geschildert, die mich beeindruckt hat.

Die Darstellung ist natürlich sehr ironisch. Aber das ist doch besser als sehr viele andere Dinge, die dem Mädchen hätten passieren können.

Gibt es die Hoffnung, dass Sie demnächst einmal etwas auf Deutsch schreiben?

Niemals.

Warum?

Ich muss für die Solothurner Literaturtage eine kleine Eröffnungsrede schreiben, also drei Seiten, zweizeilig – und schon der erste Entwurf hat mich dreissig Stunden Arbeit gekostet. Drei Tage dasitzen und hart arbeiten, damit ein halbwegs überzeugendes Deutsch zustande kommt – nein! Ich bin mir danach übrigens immer noch nicht sicher, ob die Rede überhaupt Sinn macht.


Eine Besprechung zu Nell Zinks neuem Roman «Virginia» finden Sie hier.

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