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Jens Nielsen: «Ich und mein Plural»

Jens Nielsen:
«Ich und mein Plural»

 

 

Ich, ich und nochmals ich. Jens Nielsen «ist» viele Ichs. Er geht nicht zimperlich mit ihnen um, sondern entlässt sie schonungslos in die weite Welt, die manchmal in Argentinien ist und manch­mal grausam. Er lässt das «Ich» auf der Flucht sein und zusehen, wie der Wind der Fliege auf der Windschutzscheibe ein Bein nach dem anderen ausreisst. Er lässt es zuschauen, wie eine Festgesellschaft sich an hochsteigenden Ballonen festklammert und auf dem Dachgiebel zerschellt. Oder er lässt es, «von der Arbeit» nicht mehr gebraucht und von den Mitarbeitern als Schuhabtreter verwendet, im Aufzug halb verwesen. In Nielsens Welt gibt es wenig, was in Stein gemeisselt ist. Dimensionen? 15 Meter hohe Riesenbabys! Anato­mie? Schwerkraft? Zeit? Gibt’s immer auch in Alternativversion.

Thematisch fein säuberlich geordnet, präsentiert Nielsen in sieben Teilen rund 50 Episoden in dieser so eigenen Sprache, die die Interpunktion grosszügig weglässt und dieVerben am Ende der Zeile manchmal auch, so dass die Sätze irgendwohin gehen könnten, in die Schwerelosigkeit oder ins Schwimmbad. Er tut dies mit einer schier unerschöpflichen Phantasie, die manchmal ins Surreale ausschert und manchmal ins Komische, und inmitten all der Tausenden von Ideen birgt sich eine Ernsthaftigkeit, die sich bisweilen tief in die gute Laune bohrt. Dann zum Beispiel, wenn der Zerfall eintritt, der «unvermeidliche»: Wenn die Extremitäten in alle Himmelsrichtungen schlenkern, aber vor allem nach unten, oder die Kopfhaut abrutscht und die Nase am Kinn hängt. Oder wenn der Text «Gewichtheben» mit den Zeilen «In einer Welt parallel zu dieser/Weit weg von hier/oder gleich nebenan» beginnt: Ist es nicht doch auch die unsere Spezies, die «wir […] möglichst schwere Dinge heben [wollen]», während sich Kultur, «wo Kultur vorhanden ist», gerade noch aufs Essen bezieht? Man ist froh, nicht in der Haut von Nielsens «Ichs» zu stecken – buchstäblich etwa in «Nur nicht zum Arzt» – oder «nur» dabei sein zu müssen, wenn ein Schlafwagenschaffner langsam zerfällt. Nicht selten freut man sich, die Geschichte wieder zwischen den Buchdeckeln einzusperren und die Worte in einer gewissen Distanz nachhallen zu lassen, trotz der Schmunzler und Kopfnicker während der Lektüre. Und ab und zu, da fehlt der Jens Nielsen zwischen all den Buchseiten. Nicht der Autor, sondern der Schauspieler Nielsen, der auf der Bühne steht, nur mit Mikrophon und etwas Licht, und seine Episoden von dannen lässt. In dieser unaufgeregten und doch eindringlichen Manier, mit der er Sätze (oder Satzfragmente) so formt, dass sie wie Seifenblasen durch den Saal fliegen und hoch über den Köpfen der Zuhörenden lautlos zerplatzen, und erst dann zur nächsten Blase ansetzt. Vielleicht auch, weil man im eigenen Tempo dazu tendiert, über Nielsens eigen­willige Absatzsetzung wie über schiefe Treppenstufen zu stolpern, und einem dabei wohl auch kostbare «Kleinigkeiten» im Text entgehen.

Jens Nielsen: Ich und mein Plural. Luzern: Der gesunde Menschenversand, 2018.

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