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Mehr Sauber- denn Zauberberg

Wie ein junger Autor beim Besuch des ehemaligen Lungensanatoriums, in dem sich Hans Castorp sieben Jahre lang vor der Welt gedrückt hatte, beinahe zur Thomas-Mann-Figur wurde.

Mehr Sauber- denn Zauberberg
Ascenseur des Etablissements «Schatzalp», photographiert von Adam Schwarz.

Dem Zauberberg zu entkommen, mag kein billiges Unterfangen sein, indes, schon zu ihm hinzugelangen hatte der Verfasser etliche Beschwerlichkeiten auf sich zu nehmen. So verfehlte er, aufs Äusserste enthusiasmiert in «Ocean Steamships» blätternd, die ihm zum Ausstieg zugedachte Station und fand sich in Guarda wieder, wo er nolens volens eine Stunde auf die Retourkutsche wartete. Als er in Davos Platz ankam, war die Uhr vorgerückt – und die geführte Promenade durch das Etablissement, auf die er tags zuvor subskribiert hatte, längst passé. Kein Concierge harrte seiner, bloss der asphaltene Turm des Silvretta Centers, jenes Greuels modernen Händler- und Spekulantentums, schickte sich an, ihn zu empfangen. Vital stieg er zur Hohen Promenade hinauf; auch an ihr hatte der Wandel sein Werk getan: Wurden auf besagter Terrasse einst Phtisiker und Katarrhkranke soigniert, so zeigte sie sich nun von Rentiers in weiss-beiger, zur Eroberung der hiesigen Flora vorzüglich geeigneter Kleidung okkupiert; allesamt von derart kraftvoller Konstitution, dass kein Medicus sich bemüssigt sähe, ihren Eiweissstoffwechsel zu tadeln.

Als er die Erholungsstätte «Schatzalp» motu proprio erreichte, waren Helios und sein Sonnenwagen dem Äther bereits entschwunden. Ungekünstelter als erwartet bot sie sich dem Auge des Wanderers dar. Farblich gemahnte sie an die erwähnten Greisenwämser, architektonisch an unseren Freund, Spongia officinalis, den Gewöhnlichen Badeschwamm, nahm sich doch vornehmlich die Balkonloge platterdings porös aus. Ruchlos stahl sich der Verfasser an der Lobby, woselbst er gerne zum Genuss von Punsch oder Pranzo verweilt hätte, vorbei ins Innere, um sich dort in einem Kontor wiederzufinden, das dem mondänen Geschäftsmann Gelegenheit bietet, allfällige mitgebrachte Gerätschaften an das neue elektrische Medium anzuschliessen. Letztlich fand er den Aufgang zu den Zimmern, der mit einem karmoisinroten Teppich ausgelegt war. Wem dieser Farbton nicht behagt, dem sei der Ascenseur empfohlen, der seit 1874 verlässlich Dienst tut. Der Verfasser erkor die Treppe, um sodann jedweden Winkel auszukundschaften. Die Stockwerke gemahnten an lange Schläuche, was ihnen vollends eine sanatorische Aura verlieh. Von den Versprechungen der modernen Heilkunst angezogen, adjustierte er seine Hemdsärmel, damit man ihm den Puls nehmen möge. Doch als auf sein Rufen kein Doktor erschien, zeigte sich, dass sich sein aufgewühlter Geist zu Paralogismen hatte hinreissen lassen. Hinter den dürftig isolierten Türen war das ausgelassene Geschrei junger Erdenbürger zu vernehmen, deren Bonne, wie er vermutete, gerade abwesend war. Unvermittelt stoben zwei Knaben den Flur entlang; sie dünkten ihm einem Brueghel-Gemälde entfleucht und fixierten seine virile Statur, als hätte er versäumt, seinen Budapester zu polieren.

Bei näherer Betrachtung gewahrte er, dass der Flur voller für die Ausübung des Alpinsports nötigen Zubehörs stand. Er entdeckte gar einige Korbwägen, welche man lax vor die Zimmertüren gestellt. Dies demonstrierte ihm endgültig die Mediokrität unserer Epoche: Nicht die Krankheit, die doch das vergeistigende Prinzip darstellt, sondern das Leben herrschte hier. Der geneigte Leser wird zu Recht vermuten, dass die Schatzalp, mit anderen Accomodements verglichen, den Verfasser mehr Sauber- denn Zauberberg dünkte, zugegeben apart, jedoch parfaitement ordinär.

Die hoteleigene Standseilbahn erweckte seinen Soupçon, doch es half nicht, sie war der einzige Weg zurück. Indes, der Versuch, mit ihrer Hilfe ins Tal zu gelangen, wollte nicht recht fruchten, hatte doch das Fahrkartencomptoir bereits geschlossen. Ein Concierge, den er angesichts seines Verhängnisses um Hilfe bat, erwies sich als verstockt, machte sich aber nach Bezahlen einer kleinen Summe anheischig, in den Ort zu telegrafieren. Gottlob! Denn welches Sentiment die Einquartierung in ein dergestalt plebejisches Etablissement beim Verfasser hervorgerufen hätte, bleibt unbeschreiblich.

 

 


 

Dieser Artikel kam mit Hilfe des Mann-Wortschatzes auf http://www.thomasmann.de/thomasmann/werk/wortschatz/230924 zustande.

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Hôpital de Prangins, Haute-Rive, photographiert von Claudia Mäder.
An den Gestaden des Genfersees

Nach Prangins kommen heute bestenfalls ein paar Kulturtouristen, um das Nationalmuseum zu besuchen. Einst aber gaben sich hier internationale Literaturberühmtheiten die Klinke in die Hand – um sich oder ihre Liebsten in Dr. Forels Privatklinik behandeln zu lassen. Ein Ausflug ins Waadtland und ins Leben dreier Frauen.

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