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Gianni Kuhn: «Calais – Dover»

Gianni Kuhn:
«Calais – Dover»

 

Seit vielen Jahren dominiert der Roman alle anderen litera­rischen Gattungen, und oft genug steht, meist um der besseren Verkäuflichkeit willen, das Wort «Roman» auch über Texten, die eigentlich längere Erzählungen oder Novellen sind. Auch Gianni Kuhn, der 1955 in Niederbüren geborene, in Frauen­feld lebende Künstler, hat vor Jahren einen Roman veröffentlicht: Der Falschspieler. Sein Hauptaugenmerk aber gilt der Kurzgeschichte, der Erzählung und der Lyrik – Im Fallen ­begriffen heisst seine jüngste Gedichtsammlung. Dass er ein Meister geradezu existenzialistisch angehauchter, mit überraschenden Volten nicht geizender Kurzprosa ist, hat er mehrfach bewiesen, und dass er immer wieder im westlichen Nachbarland unterwegs ist, klingt in vielen seiner Werke an. Nun legt er sechzehn «Geschichten aus Frankreich» vor.

Die der Sammlung ihren Titel gebende Erzählung Calais – Dover ruft ein klassisches Fernwehmotiv auf: die legendäre Fährverbindung über den Ärmelkanal. Bricht ihr Ich-Erzähler auf, nach England und weiter hinaus in die Welt? Nein. Die Erwartung des Lesers wird unterlaufen, wie oft bei Gianni Kuhn: «Tatsächlich habe ich Calais noch kaum je verlassen, von Schulreisen einmal abgesehen. Vielleicht habe ich am Hafen einfach in zu viele Gesichter geschaut, als dass mich die Ferne noch reizen könnte.» Gerne lässt Kuhn seine Texte erst auf den letzten Zeilen kippen: Da steigt eine Malerin auf die Anhöhe, von der aus Cézanne immer wieder die Montagne Sainte-Victoire gemalt hat, geniesst das unvergleichliche Licht der Provence, und dann stolpert sie einfach: «Das hatte ihr der Arzt schon vor drei Monaten in Lyon vorausgesagt. Irgendwann würde das bei ­einem inoperablen Hirntumor passieren. Und dann könnte es sehr schnell gehen.» Ende. Auf verblüffende Wendungen muss sich der Leser dieser scheinbar harmlos beginnenden Erzählungen einstellen. Sie spielen in Paris, Marseille, Brest, Avignon oder Toulouse, in der Nähe des Mont St-Michel oder kurz vor der spanischen Grenze, und sie spielen ganz im Hier und Heute. Oft sind es Liebesgeschichten – aber was für welche! Missverständnisse, Eifersüchte, Seitensprünge und Verbrechen gehören dazu. Die beiden schönsten Texte heissen «Die Langstreckenläuferin» und «Vor langer Zeit». Letztere spielt auf dem Christkindelmarkt in Strasbourg und ist schlichtweg herzergreifend. Unbedingt lesen!

Gianni Kuhn: Calais – Dover. Geschichten aus Frankreich. Eggingen: Edition Isele, 2012.

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