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Melinda Nadj Abonji: «Schildkrötensoldat»

Melinda Nadj Abonji:
«Schildkrötensoldat»

 

Jeder Krieg hat seine eigenen Bedingungen, aber in einem gleichen sie sich alle: Man kann sich leicht darauf verständigen, dass sie Katastrophen sind. Sämtliche Vokabeln der Dämonie, alle Prädikate menschlicher Selbsterniedrigung lassen sich auf sie anwenden. Jeder Antikriegsroman mit Anspruch versucht im Kern, dem Unaussprechlichen mit den richtigen Worten für das Falsche Ausdruck zu verleihen. Es braucht aber ganz bestimmte Ingredienzen, damit er von literarischer Bedeutung bleibt. Melinda Nadj Abonjis neuer Roman «Schildkrötensoldat» zeigt, wie das gelingen kann.

Zoltán Kertész, die Hauptfigur, wird nicht erst vom Jugoslawien-Krieg versehrt: Als Kind fällt er dem Vater vom Töff, von da an hat er das Stottern, epileptische Anfälle und einen schweren Stand im Dorf. Seine Cousine Anna ist seine einzige Vertraute. Mit genuinem Nonkonformismus und einer kindlich anmutenden Art der assoziativen Welterschliessung ausgestattet, zerbröckelt er aber Hierarchien schon früh in ihre harmlosen Bestandteile: Buchstaben und Klänge. Aus ihnen baut er sich, auch später in der Armee, eine eigene, glücklichere Wahrheit. Das ist die eigentliche Pointe von «Schildkrötensoldat»: Allein mit Vernunft, sachlicher Argumentation und Appellen an die Menschenwürde kann man der irrationalen Gewalt des Kriegerischen nicht trotzen. Melinda Nadj Abonji hält hier einen poetischen Irrationalismus entgegen – in der Figur, aber vor allem in der musikalischen Sprache Zoltáns, die sich, sprunghaft und expressiv, den Regeln von Syntax und Semiotik zu verweigern scheint: «Meine Hände sind Bäume, die herbstliches Laub abschütteln, die Äste der Akazie, die im Küchenfenster zu sehen sind, fast schon nackt, und meine eine Hand zittert blaurot, Blaubeere, Maulbeere, die Weltmeere – ich bin der König aller Kreuzworträtsel – und ich versuche aufzustehen, mich auf dem Tisch abzustützen, Mutter drückt mich auf den Stuhl -T-O-L-P-A-T-S-C-H- muss ich jetzt tatsächlich noch ein Pflaster holen?» Es hilft dabei, solche Passagen einzuordnen, dass die Autorin Zoltán und Cousine Anna, die sich nach seinem Tod auf Spurensuche begibt, abwechselnd zu Wort kommen lässt.

Am Schicksal des Titelhelden zeigt sich, wie eindringlich hier die Würde des Menschen verteidigt wird: Nadj Abonji lässt nicht den Krieg über ihn siegen, sie lässt ihn nicht auf dem Schlachtfeld, nicht im Lazarett verenden: Zoltán stirbt, gewissermassen, an sich selbst: im Zuge eines epileptischen Anfalls. Er scheitert im Ringen um eine Realität, die wie ein für die Ewigkeit gemaltes Gemälde erscheint, «so unwirklich schön, für immer geborgen in dieser tiefblauen Schale, dem himmlischen Himmel – und nur ein paar Kilometer weiter entfernt wird geschossen, gemordet, Befehle werden ausgeführt, und nichts und niemand und keine Schönheit hat offenbar die Kraft, auch nur einen Schuss zu verhindern.» Dieses Vermögen, die Sprache selbst als Akteur zu inszenieren, erhebt den Roman über ein blosses Statement hinaus zu einem literarischen Ereignis.

Melinda Nadj Abonji: Schildkrötensoldat. Berlin: Suhrkamp, 2017.

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