Ist dabei sein alles?
Grundlagen der Kanonbildung.
Wie wird man ein unvergesslicher, ein kanonischer Autor? Angesichts des medialen Aufsehens, das jedes Jahr die Verleihung des Literaturnobelpreises auf sich zieht, könnte man verleitet sein zu glauben, dass die Ausgezeichneten zu den kanonischen Autorinnen und Autoren zumindest ihres Landes zählen. Doch es gibt genügend Beispiele, die zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Wer kennt heute etwa noch Paul Heyse, den ersten deutschen belletristischen Nobelpreisträger (vgl. Artikel S. 24)? Heyse gehörte zu den meistdekorierten und anerkanntesten Autoren seiner Zeit, aber auch ein Nobelpreis konnte ihn nicht vor dem Vergessen bewahren.
Ruhm zu Lebzeiten lässt keine verlässlichen Aussagen über den postumen kanonischen Status zu. Auch wer zu seiner Zeit so gut wie unbekannt war, kann postum die höchsten Weihen der Kanonisierung erlangen. So war Georg Büchner, als er 23-jährig starb, den wenigsten Zeitgenossen als literarischer Autor ein Begriff – zu Lebzeiten erschien lediglich ein einziges Bühnenwerk, und das auch noch in einer verstümmelten Fassung. Heute zählt er, obwohl sein literarisches Gesamtwerk nur wenige hundert Seiten umfasst, zu den meistgespielten Autoren auf deutschsprachigen Bühnen. Oder Franz Kafka, der heute wohl weltweit einflussreichste deutschsprachige Autor: sein zu Lebzeiten veröffentlichtes Werk füllt einen schmalen Band. Es galt zwar unter Kennern schon damals als bedeutend, seine drei Romane (die alle Fragment blieben) erschienen jedoch erst nach seinem Tod. Trotzdem begründeten sie seinen Ruhm und waren mitentscheidend für seine Aufnahme in den Kernkanon der deutschsprachigen Literatur.
Machen wir aber zunächst noch einen weiteren Schritt zurück und stellen die wichtige Frage, was überhaupt ein Kanon ist. Ganz allgemein gesprochen handelt es sich beim Kanon um die hierarchisch organisierte Summe all jener Texte oder Autoren, die eine kulturelle Gemeinschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt für überliefernswert und mustergültig hält. Es gibt Texte und Autoren, die stärker kanonisiert sind als andere; und während der Kernkanon relativ stabil ist, herrscht an den Rändern des Kanons eine Bewegung, die sich mit «Kanonisierung» beziehungsweise «Dekanonisierung» beschreiben lässt.
Die unsichtbare Hand
Im Folgenden geht es um die Frage, wie es sich erklären lässt, dass bestimmte Texte beziehungsweise Autoren kanonisch werden – und andere eben nicht. Um sie zu beantworten, hat die Literaturwissenschaft verschiedene Modelle erarbeitet, die unterschiedliche Akzente setzen. Unter denjenigen Modellen, die sich in erster Linie auf historische und literatursoziologische Aspekte konzentrieren, überzeugt vor allem das sogenannte «Invisible-Hand-Modell» der Göttinger Literaturwissenschafterin Simone Winko. Sie greift dort mit Rekurs auf den Sprachwissenschafter Rudi Keller die von Adam Smith eingeführte Metapher der «unsichtbaren Hand» auf. Bekanntlich führte Smith in «Wohlstand der Nationen» die «invisible hand» als Erklärung dafür an, warum Händler ihre Ökonomien selbst dann – oder gerade dann – voranbringen, wenn sie vor allem in ihrem eigenen Interesse handeln. Obwohl der Händler nur auf seinen eigenen Gewinn bedacht sei, trage er, so Smith, auch zum Wohlergehen anderer bei, was er eigentlich nicht beabsichtigt habe. Diesen Effekt vom Handeln auf Märkten beschreibt Smith als «unsichtbare Hand».
Nach Winko ist ein Kanon das Resultat einer Vielzahl von literarischen Wertungen, also Handlungen, in denen Literatur bewertet wird: Rezensionen in Zeitungen, Zeitschriften oder Blogs fallen genauso darunter wie die Entscheidung, einer Autorin einen Preis zu verleihen, ihre gesammelten Werke herauszugeben oder sie zum Gegenstand eines Seminars oder einer Abschlussarbeit zu machen. Auch der Kauf eines Buches ist eine literarische Wertung, weil man sich dabei für ein bestimmtes Buch (und eben gegen ein anderes) entscheidet. Abstrakter gesagt: literarische Wertungen sind all jene Handlungen, in denen ein Text oder auch ein Autor an einem Wertmassstab gemessen wird. Nach Winko entsteht ein Kanon aus dem Zusammenspiel einer Vielzahl von Einzelhandlungen, die nicht notwendigerweise auf die Kanonisierung eines Textes abzielen müssen. Wer jemandem ein Denkmal errichtet, einen literarischen Verein zu seinen Ehren gründet oder sein ehemaliges Wohnhaus zu einer Gedenkstätte ausbaut, möchte, dass derjenige, der so geehrt wird, in Erinnerung bleibt. Darüber hinaus gibt es aber auch viele literarische Handlungen, die für den Kanon zwar relevant sind, aber nicht zwingend darauf abzielen, einen Text zu kanonisieren, sondern darauf, ihn beispielsweise als Roman gut zu verkaufen, sich mit seiner Analyse zu qualifizieren, mit seiner Verfilmung einen spannenden Film abzuliefern, ihn den Nutzern einer Bibliothek zur Verfügung zu stellen, mit seiner Inszenierung das Theater zu füllen und so weiter. Dennoch – und hier greift die «invisible hand» – kann aus diesen Handlungen zusammengenommen resultieren, dass ein Text in den Kanon kommt, obwohl das von den einzelnen Akteuren nicht beziehungsweise nicht von allen beabsichtigt gewesen ist.
Aus dem Gesagten dürfte deutlich geworden sein, dass es sich um ein deskriptives Kanonmodell handelt, bei dem die Frage im Vordergrund steht, wie sich das Zustandekommen eines Kanons erklären lässt. Wer hingegen wissen will, was man gelesen haben muss, um als gebildet zu gelten, welche Texte zu einem gegebenen Zeitpunkt als kanonisch gelten, wird hier nicht fündig. Es geht um keinerlei normative Vorgaben zur Beantwortung der Frage nach «guter Literatur». Dazu muss man sich schon einem publizistischen Unterfangen wie Marcel Reich-Ranickis «Der Kanon» genannten Anthologie zuwenden. Allerdings liefert auch eine solche Zusammenstellung immer nur einen Ausschnitt des eigentlichen Kanons, dessen Zusammenstellung auf je individuellen Massstäben in Hinblick auf die Frage basiert, was gute (oder eben auch schlechte) Literatur sei.
Kanon und Identitätsbildung
Der moderne Kanon ist an die Entstehung und Etablierung einer Nationalliteratur gebunden. Kanonisierungsprozesse hängen nicht nur von einer gemeinsamen Sprache ab, sondern vom kulturellen Selbstverständnis einer Nation. Man denke an den Kanon der deutschsprachigen Literatur. Wir können davon ausgehen, dass er in der deutschsprachigen Schweiz und in Österreich zwar nicht vollkommen anders aussieht als in Deutschland, aber eben doch anders. Die Hierarchisierung bestimmter Autoren unterscheidet sich in diesen Ländern. Franz Grillparzer, Ferdinand Raimund oder Johann Nestroy haben in Österreich einen höheren kanonischen Rang als in Deutschland, gleiches gilt für Gottfried Keller, Jeremias Gotthelf oder Friedrich Glauser in der Schweiz. Umgekehrt spricht allerdings auch manches dafür, dass Max Frisch oder Robert Walser in Deutschland stärker kanonisiert wurden als in der Schweiz. Tatsache bleibt: die Relevanz der Nation sollte bei der Auseinandersetzung mit dem literarischen Kanon nicht unterschätzt werden, gerade in Ländern, die Teil grenzüberschreitender Sprachgemeinschaften sind. Dies ist auch der Grund, warum es, allen kulturellen Vereinigungs- und Verständigungsbemühungen zum Trotz, weder einen europäischen noch einen globalen Literaturkanon gibt und wahrscheinlich nie geben wird – abgesehen von Autoren wie Shakespeare oder Flaubert, deren Rang zumindest in westlichen Kulturen unbestritten sein dürfte.
Kanones sind im Sinne des Invisible-Hand-Modells anschlussfähige Textkorpora, die aus Selektionen in kulturellen Feldern hervorgehen und, um nur eine «klassische» Kanonfunktion zu nennen, eine identitätsstiftende, selbstdarstellerische Funktion haben. Der Kanon spiegelt das kulturelle Selbstverständnis einer Nation wider. Dies lässt sich an Heinrich Heine illustrieren, ein im 19. Jahrhundert für sein «Buch der Lieder» von vielen verehrter, ja geliebter, gleichzeitig wegen seiner spitzen Feder, seinen politischen Statements – und seiner jüdischen Herkunft – von vielen gehasster Autor. Sein berühmtestes Gedicht konnten die Nazis nicht verbieten – zu populär war die «Loreley» dank der Vertonung Friedrich Silchers – aber in einschlägigen Anthologien erschien es mit dem Vermerk «Dichter unbekannt». Es wurde gewissermassen der Autor aus dem Kanon verbannt, wenn dies schon mit dem Werk nicht mehr möglich war. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien das Gedicht zwar wieder mit dem richtigen Verfasservermerk, aber dennoch taten sich die Deutschen nach wie vor schwer mit Heine – besonders seine Heimatstadt Düsseldorf. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, dass es noch 1968 einen Streit um die Benennung der Düsseldorfer Universität nach dem wohl bekanntesten Sohn der Stadt gab und dass es noch zwanzig Jahre dauern sollte, bis sich die Universität in Heinrich-Heine-Universität umbenannte.
Kanon, rückblickend rekonstruiert
Die Frage, warum ein bestimmter Text oder ein bestimmter Autor heute im Kanon ist oder nicht, lässt sich nur dann mit dem Invisible-Hand-Modell plausibel beantworten, wenn man sich die Mühe macht, in historischer Perspektive jene Handlungen oder Ereignisse zu analysieren und zusammenzutragen, die kanonrelevant gewesen sein könnten. Es gibt ja nicht einfach den Kanon; Kanones lassen sich nur rekonstruieren im historischen Rückblick auf einen bestimmten Zeitpunkt. Eine entscheidende Rolle bei der Kanonisierung Heinrich Heines dürfte gespielt haben, dass sich die öffentliche Meinung in Deutschland Ende der 1960er Jahre erheblich wandelte: Für die 68er Generation gab Heine, der sein Leben lang nationalistischem Dünkel kritisch gegenüberstand, der stets ein politischer Autor war, der seine Heimat geliebt und unter den Deutschen gelitten hat, eine passende Identifikationsfigur ab. Die ab 1968 erscheinende Heine-Ausgabe Klaus Brieglebs trug wesentlich zur Popularisierung bei, nicht zuletzt bei den in diesen Jahren ausgebildeten Deutschlehrer(inne)n und Hochschuldozenten. Die DDR hatte Heine dagegen schon früher kanonisiert, galt er dort doch als Wegbereiter einer engagierten Literatur und als frühsozialistischer Autor.
Nicht jede Kanonisierung verläuft völlig unterschiedlich, und doch sollte man nie der Versuchung unterliegen, die Ursache in einem einzigen Faktor zu suchen, sondern sich vor Augen halten, dass es stets das Zusammenspiel mehrerer Handlungen verschiedener Akteure und/oder Institutionen ist, die Zugehörigkeit zu einem Kanon verschaffen. Und man sollte sich stets bewusst sein, dass «kanonisch» zwar ein dauerhafter, aber kein irreversibler Zustand ist. Ein Kanon ist ein dynamisches Konzept, ein lebendiges kulturelles Konstrukt, das offen und in Bewegung ist. Kanonizität lässt sich nur bedingt steuern, sie ist aber auch kein Zufall, auch wenn dieser manchmal eine Rolle spielen mag. Hätte Max Brod sich entschlossen, dem testamentarischen Willen seines Freundes Folge zu leisten, würden heute vielleicht nur Experten etwas mit dem Namen Franz Kafka anfangen können. Wäre Karl Emil Franzos als Gymnasiast nicht zufällig auf einen Druck von «Dantons Tod» gestossen – vielleicht würden wir heute den Namen Georg Büchner überhaupt nicht mehr kennen.
Eines jedoch steht fest: Popularität zu Lebzeiten sagt nichts über eine spätere Kanonisierung aus. Goethe und Schiller waren zu ihrer Zeit anerkannte Autoren – wer aber kennt heute noch deren Zeitgenossen Christian Heinrich Spiess, dessen Romane damals Bestseller waren und dessen Theaterstücke auf allen deutschen Bühnen gespielt wurden? Nach den ersten beiden wurden Universitäten benannt, wir können ihre Häuser besuchen, ihre Stücke werden gespielt, ihre Werke gedruckt und gelesen – von Spiess wissen wir heute nicht einmal, wie er aussah.
Ruhm ist vergänglich – erst der Nachruhm zeigt, was wirklich von Bedeutung ist. Was heute noch Weltliteratur von Dauer zu sein scheint, kann schon bald vergessen sein. Mit grosser Wahrscheinlichkeit würden wir uns auch ohne Nobelpreise heute noch an Hesse oder Mann erinnern. Aber wie wäre das wohl bei Canetti?
Literaturhinweise:
Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Literarische Kanon-bildung. München: Edition Text und Kritik, 2002.
Aleida Assmann: Formen des Vergessens. Göttingen: Wallstein, 2016.
Christoph Grube: Warum werden Autoren vergessen? Mechanismen literarischer Kanonisierung am Beispiel von Paul Heyse und Wilhelm Raabe. Bielefeld: transcript, 2014.
Gabriele Rippl und Simone Winko (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, 2013.
Matthias Beilein
ist promovierter Germanist und arbeitet als Wissenschaftsmanager an der Universität Göttingen.