Roman Graf:
«Niedergang»
Sie ist dünn, drahtig und kommt aus Norddeutschland. Er ist dünn, drahtig und ein ehemaliger Schweizer Pfadfinder. Sie haben sich in Berlin getroffen, das flache Mecklenburger Umland erwandert und sich beim Sportklettern in der Halle fürs Gebirge fit gemacht: Herzen, Kerzen, Toblerone – und der Gipfel der Genüsse ist eine Trekkingtour in den Schweizer Alpen. Nicht der Rede wert, meinen Sie? Der Eindruck täuscht.
In seinem zweiten Roman «Niedergang» verzichtet Roman Graf auf schokosüsse Romantik, er schildert stattdessen die Realität der «Generation 30+». Darüber lohnt es sich zu schreiben und zu reden – über berufstätige, kinderlose, egozentrische Adrenalinjunkies mit einer narzisstischen Freude am Austrainieren und Ausprobieren des eigenen anbetungswürdigen Körpers. Bissig und ironisch zeigt der gebürtige Winterthurer Graf, wie diese «Dreissiger» die Welt sehen … also einen Teil der Welt… den einzig wichtigen Teil der Welt… sich selbst. Dass Graf hierbei weder übertreibt noch zurechtbiegt, belegte unlängst der Bayerische Rundfunk. Im Jahr 1953 stellte er seinem Publikum die Frage: «Bist du wichtig?» Zwölf Prozent der Hörer stimmten zu. Diese Umfrage wurde 2007 wiederholt, nun antworteten 88 Prozent mit «Ja». Grafs Hauptfigur André hätte drei Ausrufezeichen hinter sein «Ja» gesetzt und indigniert gefragt: Who else?
So stürmt er den Berg hinauf, spürt seine Muskeln, seine Kraft, sein alpines Wissen und könnte bis in den Himmel stürmen, würde er nicht gebremst und genervt von der zickigen, bummelnden Louise – eigentlich heisst sie Friederike, aber das klingt so provinziell. Sie hasst den Regen, verflucht den Nebel, fürchtet die dünne Luft, mag die steilen Anstiege nicht und läge am liebsten an einem See, um sich in der Frühlingssonne zu bräunen. André aber ist beleidigt, da er diese tolle Tour geplant hat, minutiös ausgearbeitet, ein Abenteuer, eine echte Herausforderung. Er erwartet Bewunderung, Gefolgschaft, Respekt. Er stürmt, er drängt, er bezwingt den Fels, doch niemand guckt, niemand staunt, niemand sieht, was für ein Held er ist. Einsam ist er in einer Umgebung, über die er dort ganz oben keine Macht hat. Er erreicht den Gipfel und ist – wie Kafkas «Hungerkünstler» – allein mit seiner Leistung. Alles, was er benutzte, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, sich selbst immer mehr zu lieben – es fehlt hier, denn der Berg verneigt sich nicht ob seiner Kletterkunst. Und Louise schon gar nicht. Ganz oben angekommen vermisst André die Dünne, Drahtige aus Norddeutschland. Sie ist verschwunden.
Bis dahin vermissen wir als Leser nichts, denn so weit ist Graf mit seinem – für den Schweizer Buchpreis nominierten – neuen Roman so ziemlich alles gelungen. Nun, auf diesem Gipfel aber verliert seine Geschichte merklich an Schwung, Wortwitz und Realitätsbezug. Die letzte Etappe misslingt: Andrés individueller Abstieg ist ein plattes Abarbeiten psychopathologischer Befunde. Minutiös wird erzählt, wie André das Selbstbewusstsein verliert, wie André anderen die Schuld gibt, wie André in Traumwelten flüchtet. Klar, dass bei so viel innerer Düsternis dann bald auch noch ein Sturm aufzieht…
Sei es drum: Die oft komische, teilweise anrührende und überwiegend souverän in Andrés auftrumpfenden Selbstgesprächen verfasste Erzählung zeigt durchaus, wie der Berg als Gegenwelt den egomanen, selbsternannten Überflieger zum armen Würstchen werden lässt. Einigen wir uns also darauf, dass dieser «Niedergang» während seines Aufstiegs grandios ist – und erst ganz am Ende tiefhängende Wolken die Sicht ein wenig eintrüben. So ist das eben. Manchmal. In den Bergen.
Roman Graf: Niedergang. München: Knaus, 2013.