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Und führe uns nicht in Vesuvio

Warum Unberechenbarkeit attraktiv macht.

Sorry, Matterhorn. Der meistbesuchte Berg der Welt ist keine Majestät, sondern ein launisches Ding. Anmutig anzusehen, aber brandgefährlich. Tief drinnen brodelt und kocht es. Und alle paar Jahrhunderte kommtʼs zum Ausbruch. Unberechenbarkeit macht attraktiv – auch den Vesuv. Der Kies knirscht unter den Trekkingsandalen, Flipflops, Plastikcrocs und Turnschuhen. Vom Carparkplatz schlängelt sich ein Weg hoch zum Kraterrand, durch Ticketkontrollen und Souvenirshops. Diese Prozession wird nicht vom Erzbischof angeführt, der im 16. Jahrhundert dem brennenden Berg das Blut des San Gennaro entgegenhielt. Die Touristen aus aller Welt besteigen ihn mit erhobenen Smartphones. Die meisten haben eben noch die konservierten Leichen in Pompeji bestaunt, vor ihnen liegend mit eingeschlagenen Schädeln und gekochten Gehirnen, haben sich wollüstig gegruselt angesichts eindeutiger Graffiti vor dem römischen Bordell, hingekritzelt, bevor die Feuerwalze über sie kam. Aber man kann den Römern nichts vorwerfen. Solange sie hier siedelten, hatte nichts darauf hingedeutet, dass der Berg hinter ihnen Feuer spuckt. Ganz anders heute. Der Vesuv ist der am besten und längsten erforschte Vulkan der Welt. Alle zwei Wochen seilen sich Wissenschafter in seinen Krater ab, schnüffeln am schwefligen Räuchlein einer Fumarole, fangen Proben ein, um zu erkennen, was den Vesuv in seinem Innersten umtreibt. Ein Jahrhundertausbruch ist seit Jahren fällig. Doch wie so oft, was die Wissenschaft weiss, macht die Politiker nicht heiss. «Wer bei uns Bürgermeister werden will», so ein Lokalreporter, «redet nicht von Notfallplänen.» Besser sei es, das Budget für das Fest des Stadtheiligen aufzustocken, für die Prozession, die Süssigkeiten, das Feuerwerk. 700 000 Menschen leben in der roten Zone, bauen Häuser und Villen in ein Gebiet, aus dem es keine realistischen Evakuierungspläne gibt. Die lustvoll gelebte Verdrängung macht den Vesuv zum gefährlichsten Vulkan der Welt. Oder wie es der Korrespondent Oliver Meiler nannte: zum Gipfel der Sorglosigkeit. Noch strömt keine Lava herab, dafür die Touristenmasse hinauf. Die Anziehungskraft des Vesuvs war selbst in seinen aktiven Zeiten gross. Auch Goethe fand sich unter den Pionieren des Katastrophentourismus, wurde allerdings enttäuscht, er konnte keinem Ausbruch beiwohnen. Später führte gar eine Standseilbahn hoch, die jedoch von einer dieser ersehnten Eruptionen zerstört wurde. Von ihr übrig ist nur noch der Schlager «Funiculì, Funiculà», der zur Eröffnung komponiert worden war. Viel wurde geschrieben zur Kulturgeschichte dieses Vulkans, aber in keinem Buch so schön wie in Dieter Richters «Vesuv – Geschichte eines Bergs». Er führt uns hinab in die Magmakammer der Erinnerung, berichtet vom Erreger neapolitanischer Leidenschaft, von der Lust auf die Katastrophe. Vom Vesuvischen Urahn über die Bronzezeit bis zum letzten Ausbruch im 2. Weltkrieg. Von Vergil, Fontane, Immanuel Kant, dem Mädchen von Pompeji und Andy Warhol. Wer heute ein Picknick am Kraterrand macht, sollte es dabeihaben, darin blättern und sich inmitten dieser Entwürdigung eines Bergs versöhnlich stimmen lassen. Den Vesuv zu unterschätzen, gehört einfach zu ihm. Er gibt sich nahbar und verwöhnt mit einem herrlichen Ausblick über den Golf von Neapel. An seinen Hängen wachsen die köstlichsten Tomaten, der Wein schmeckt göttlich. Kein Wunder, dass trotz Umsiedlungsprämien niemand wegziehen mag, dass sich immer neue Häuser an seine Flanken schmiegen. Für seine Anwohner ist der Vesuv das Paradies – bis er sie mit Feuer daraus vertreibt.


Buch: Dieter Richter: Der Vesuv – Geschichte eines Berges. Berlin: Klaus Wagenbach, 2018.

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