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Jochen Kelter: «Wie eine Feder übern Himmel»

Jochen Kelter:
«Wie eine Feder übern Himmel»

 

Der Lyriker, Prosaschriftsteller und Essayist Jochen Kelter, 1946 in Köln geboren, lebt auf der Schweizer Seite des Bodensees. Dass der See samt Säntis im Süden und Vulkanen im Norden auch in seinem jüngsten Gedichtband vorkommt, war zu erwarten. Auch dass diesen eminent politischen Autor, den das subtile und manchmal skandalös offensichtliche Weiterleben von Nazismus und Faschismus in Europa immer schon beschäftigt hat, das aktuelle Weltgeschehen nicht gleichgültig lässt, war abzusehen. Sarajevo kommt vor, Aleppo und Homs, die Ukraine, Laos, Ruanda oder Gaza: Politik als Katastrophe, Geschichte als Gewaltgeschichte, auch als Verhängnis – das Gedicht «Was für ein Land», geschrieben «in memoriam Hans Robert Jauss (1921–1997)», wäre ein Beispiel dafür. Neu und oft verblüffend ist, auf welche Weise hier der politischen und menschlichen Verlogen- und Verlorenheit Poesie abgewonnen wird. Jochen Kelter beherrscht sein Handwerk, mehr noch – viele seiner lyrischen Gebilde bezeugen souveräne Meisterschaft.

Verglichen mit früheren Gedichtbänden dieses Autors ist ein neuer Ton auszumachen, eine lyrische Gestimmtheit, die man vom politischen Dichter Jochen Kelter weniger kennt: das schmerzliche Gewahrwerden von Vergeblichkeit und verpassten Chancen, ein Hauch von Wehmut und Melancholie, von Trauer und Abschied, vielleicht sogar von Resignation. Da spaziert das lyrische Ich durch Saint-Germain-des-Prés, einen ikonischen Ort der Erinnerung an die Studentenrevolte von 1968, und verabschiedet sich vom Geist der Utopie: «… ich laufe auf dem Grund der Zeit / die Leute sind andere als dazumal / waren sie schauen nicht was nie / betrachtet wurde und heute nicht / mehr zu sehen ist.» Diesen stets mit inniger Hoffnung auf Veränderung verbundenen Geist scheint es nicht mehr zu geben: «Ich schaue auf den Grund / der Zeit und er ist grau / zur Gänze leer.» Das Ich, «allein auf dem Grund der Zeit», hat den massiven und oft tödlichen Verwüstungen des 20. und 21. Jahrhunderts nur Erinnerungssplitter entgegenzusetzen, während «die Enkel der Pétainisten / Pfeilkreuzler Eisernen Garden» neue Triumphe feiern. Jochen Kelters Perspektive ist immer eine weltumspannende – die Schauplätze seiner Gedichte wechseln rasch: die arabische Welt, Frankreich und Italien, vor allem Griechenland. Doch auch dort wird die Melodie des Akkordeonspielers leiser, ja: «Alles ist bis zur Kenntlichkeit / verblasst das Akkordeon stumm.» Und die Sprache, die Poesie, die Worte? «… es braucht keine Worte die Welt ist / unerheblich nur die Möwen schreien und / zerfallen im Flug über dem Wasser / wie die Worte die ihnen folgen.»

Was kann ein Lyriker noch ausrichten? Ein aussergewöhnlich schönes Gedicht, das «Demut» heisst, endet so: «Versuche ich / diesen blühenden Tag in Gewissheit / der Endlichkeit in mein langes am Ende / kurzes Lebensgedächtnis einzufrieden / das mit mir verschwinden wird.» Man wird kaum widersprechen wollen, wenn hier das Wort «Altersgedichte» fällt. Na und? Es sind schöne Gedichte, und das allein zählt.

Jochen Kelter: Wie eine Feder übern Himmel. Frankfurt am Main: Weissbooks, 2017.

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