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Leo Tuor: «Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee»

Leo Tuor:
«Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee»

 

Wenn ich an die Surselva denke, ist da vor allem Sommer: stehende Hitze über hohem Gras, flirrendes Gezirpe und der warme Duft von Heu. Dann aber auch eisiger Wind und sturzartige Regenfälle, der Geschmack von nassem, heissem Stein. Disentis – das war Sommer für Sommer meine Heimat. Sobald ich das weithin sichtbare Kloster sah, war ich daheim. Dort habe ich gelernt, wie das Wild beim Metzger hängt, um verarbeitet zu werden. Ich habe die Schüsse im Wald gehört, die Jäger gegrüsst. «Bien di.»

Umso gespannter war ich auf Leo Tuors neues Werk «Die Suche nach dem verlorenen Schnee». Es nimmt uns mit auf Streifzüge durch diese Surselva, wie sie früher einmal war – und wie sie vielleicht heute noch ist. Es sind zugleich Ausflüge in die grosse Literatur: die Literatur eines James Joyce, aber auch die der rätoromanischen Dichter.

Tuor weiss, wovon er schreibt – sei es Buch- oder Bergleben. Er hat jahrelang Schafe gehütet und Gemsen gejagt. Nun berichtet er von Vorder- und Hinterrhein, erklärt mir seine Berge mit ihren steinalten Wegen, die wegbürokratisiert und durch leichter gangbare ersetzt werden, damit noch mehr Touristen in die Berge strömen. Gut gangbar sind auch seine Texte: Leichtfüssig folge ich ihm durch die Greina-Ebene, gemeinsam erklimmen wir Höhen und Täler. Bald ärgere ich mich über die Unterländer, die eigens für ihre Sommerferien die zwei Worte «Bien» und «di» auswendig lernen und die Staumauern bauen, damit sie Strom haben in ihren Städten.

Tuors Liebe zur Sprache ist ansteckend: so sehr, dass es zur Nebensache wird, dass ich seine nicht spreche und die Bücher kaum gelesen habe, von denen er schreibt. Seine Texte entlarven mich zwar immer wieder als Nichtberglerin und Joyce-Unkundige. Das macht aber nichts, denn sie stellen mich nie bloss – sie stellen bloss fest. «Die Suche nach dem verlorenen Schnee» ist eine Sammlung von hinreissenden Erzählungen und Essays, durchzogen von wehmutsvollen Erinnerungen an Zeiten, in denen der Schnee noch ewig war und die Wege durch die Greina nur Tieren und Berglern bekannt. Aber auch die Rheine durchziehen die Erzählungen wie die Surselva, die Wasser lassen nicht aufhalten: «Niemand weiss, wer der Rhein ist, weil er ein Zauberer ist, ein Meister der Verwandlung, immer in Bewegung.» Wenn ich fortan an die Surselva denke, dann weil ich weiss, dass Sommer nie mehr so sein wird wie früher: «Alles verwandelt sich, fortlaufend.»

Leo Tuor: Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee. Erzählungen und Essays. Zürich: Limmatverlag, 2016.

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