Urs Zürcher: «Alberts Verlust»
Zürcher lässt in seinem raffinierten Roman einen Mann fremde Biographien anprobieren, um der erinnerungslosen Leere zu entkommen.
«Ich probiere Geschichten an wie Kleider», paraphrasierte Max Frisch im «Gantenbein» die Arbeitsdevise jedes Literaten: erlöst von dem, was wirklich war, eine fiktive Wirklichkeit zu erfinden. Wer aber kein Literat ist und nicht freiwillig, sondern zwangsweise auf Tatsachen verzichten muss, sieht darin nicht das poetische Potenzial, sondern einen realen Verlust. So wie Albert, die titelgebende Hauptfigur im zweiten Roman des Basler Schriftstellers Urs Zürcher, der infolge eines schweren Autounfalls an Amnesie leidet. Körperlich erholt er sich zwar bald und sein semantisches Gedächtnis – also die Kenntnis von weltlichen Zusammenhängen – ist intakt, die episodische Erinnerung ans eigene Leben allerdings ist ausser Kraft gesetzt. Als man ihm am Krankenbett seine Frau vorstellt, ist sie eine Fremde für ihn: ihr Name, ihr Gesicht, ihre soziale Rolle als seine Frau, die gemeinsame Geschichte – alles weg. Mit vereinten Kräften versuchen nun insbesondere Gerda, seine Frau, und Dr. Beck, sein Psychologe, Alberts episodisches Gedächtnis zu restaurieren. Aus unterschiedlichen Interessen: Gerda will ihren Mann zurück, Dr. Beck hingegen wittert einen karrieredienlichen Fall. In teils bizarren Nachstellungen ehemaliger Erlebnisse gehen sie auf Spurensuche, drapieren Albert in frühere Szenarien, reproduzieren Dialoge aus vergangenen Jahren und hetzen ihn durch fotografische Familienalben – nichts jedoch hilft, auch nicht die geschlechtliche Vereinigung, die Dr. Beck den beiden als «Vollzug der Erinnerung» empfiehlt.
Aus diesem Setting ergibt sich eine bisweilen eigenwillige Komik, die den Ernst des Sujets und die ambitionierte Poetik Zürchers angenehm auflockert. Was auch nottut, denn die Handlung, so sorgsam sie arrangiert ist, kommt nur zögerlich voran. Von Albert heisst es einmal: «er verharrte in der erinnerungslosen Leere»; auch der Roman selbst läuft Gefahr zu verharren, allerdings in den Bildern und fein verästelten Illustrationen eben dieser «erinnerungslosen Leere», für die Zürcher ein unerschöpfliches Reservoir an Metaphern aufbietet. Es ist ein Verdienst der sprachlichen Finesse und Akkuratesse, mit denen der Roman gestaltet ist, dass diese Metaphern sich zum poetischen Psychogramm eines Mannes fügen, dessen Amnesie zur Allegorie für den biografischen Konjunktiv wird. Das Kleid seiner eigenen Geschichte, das Albert in die Garderobe seines Gedächtnisses gehängt wird, scheint ihm jedenfalls nicht passen zu wollen.
Urs Zürcher: Alberts Verlust. Zürich: bilgerverlag, 2018.