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Vom Freischärler zum Nationaldichter
«Die Gefilde der Seligen», Karikatur zu Gottfried Kellers 100. Geburtstag, «Simplicissimus» vom 15. Juli 1919.

Vom Freischärler zum Nationaldichter

Was Goethe in Deutschland, ist Keller in Zürich: Er hält für jede Gelegenheit ein Zitat parat. Doch wer war der politische Keller? Gar nicht so einfach.

Zu den gefahrlosesten Aussagen über Gottfried Keller gehört, er sei ein politischer Mensch gewesen. Seit früher Jugend war er politisch interessiert, journalistisch und in Briefen hat er die Geschehnisse in der Schweiz begleitet und kommentiert. Auch sein literarisches Werk steht oft in politischem Kontext, Keller lieferte die Festgedichte zu den vaterländisch aufgezogenen Feiern, mit denen sich die junge Nation ihrer Existenz versicherte. In seinem Werk lässt sich die Entstehung der Schweiz von 1848 ebenso ablesen wie ihre spätere Entwicklung.

Doch wofür stand Gottfried Keller politisch? Keller war kein Politiker, sondern ein politisierender Dichter, kein «Denker» und Systematiker, sondern ein Literat. Zeitlebens hat er sich mit keiner politischen Ordnung theoretisch befasst. Seine politische Publizistik war tagesaktuell, seine politischen Aussagen überwiegend Früchte der Gelegenheit. Er wollte wirken und suchte die Öffentlichkeit, um Einfluss zu nehmen.

Kellers politische Biografie verzeichnet mehrere Umstürze, in seiner politischen Publizistik lassen sich vier Phasen unterscheiden: radikale Polemik (1845), Kritik an den Zürcher Eliten (1856–1861), Staatsschreiberjahre (1861–1876), resignierte Distanz (1877–1890).1

Radikale Polemik

Von Herweghs «Gedichten eines Lebendigen» (1841) geweckt, warf sich Keller Anfang der 1840er Jahre in die politische Lyrik, um von der fehlgeschlagenen Malerei loszukommen. Schon mit den ersten Gedichten stellte er sich gegen die «Reaktion» und propagierte Liberalismus, Radikalismus, Fortschritt, Aufbruch, Unabhängigkeit, Freiheit des Geistes. Man unterschied Konservative und Fortschrittliche, wobei letztere die Liberalen und die Radikalen umfassten, die noch auf derselben Seite kämpften. Das «Pathos der Parteileidenschaft» wurde Keller zu einer «Hauptader meiner Dichterei». Auch publizistisch tat er sich hervor. Und wie: Unter seinen «Schriften zur Politik», wie sie in Werkausgaben papieren genannt werden, finden sich immer wieder direkte Angriffe auf Zeitgenossen. Keller beherzigte die «alte Regel, dass man einen Gegner entweder in Ruhe lassen oder dann ohne alle Schonung angreifen soll» (1860). Er gab den Berserker, der mit Worten prügelt wie mit den Fäusten. Wer diese Pamphlete liest, denkt nicht an einen Staatsmann.

1844 und 1845 machte der militärisch ungeschulte Keller auf marschieruntüchtigen Beinen und mit schiessuntauglichem Gewehr zwei antiklerikale Freischarenzüge Richtung Luzern mit. Im frühen «Grünen Heinrich» hat er sie idealisiert, in «Frau Regel Amrain» dann wirklichkeitsnäher gestaltet. Denn statt den Aufständischen gegen die Jesuiten helfen zu können, blieb die Zürcher Delegation jeweils schon bald in einem Wirtshaus hängen. Beim Freischarenzug vom Dezember 1844 kam Keller nur nach Albisrieden, im März 1845 dann bis nach Maschwanden.

Im November 1847 beendeten die liberalen Kantone den Sonderbund der katholischen Kantone, die Bundesverfassung von 1848 hielt den Sieg des Liberalismus fest. Für Keller, der, wie er im «Traumbuch» schrieb, von einem «vaguen Revolutionär und Freischärler à tout prix […] zu einem bewussten und besonnenen Menschen» reifte, war damit ein Idealzustand erreicht, der keine Weiterentwicklung zuliess. Er sah, wie er 1889 festhielt, «die Welt für gut und fertig» an. Die direkte Demokratie, die er auch als «absolute Demokratie» bezeichnete, war nicht in seinem Sinn, und das Frauenstimmrecht trat nicht beunruhigend in seinen Gesichtskreis. Die Unruhe, die er bis 1848 erlebt hatte, schrieb er nicht fort. Er war ein Radikaler gewesen, der die vorrevolutionäre Aristokratie und ihre nachrevolutionären Überbleibsel zum Teufel wünschte. Als aber der Staat von 1848 erreicht war, mutierte Keller zum Konservativen. Er wollte die Schweiz bewahren, wie sie nun war, und zwar nicht nur in bezug auf die Werte, die er hochhielt, sondern auch in bezug auf die Strukturen.

Kellers Vorstellungen, wie diese Strukturen erhalten und mit Leben gefüllt werden sollten, kann man denn auch kaum als liberal bezeichnen, wenn liberal heisst, dass jeder tun und lassen darf, was er will, solange er damit den andern nicht schadet. Er forderte staatsbürgerliche Partizipation, alle mussten teilnehmen, ja Keller postulierte die Diktatur der Politik: «es darf keine Privatleute mehr geben!» «Der grosse Haufe der Gleichgültigen und Tonlosen muss aufgehoben und moralisch vernichtet werden.» (1848) Denn: «heute ist alles Politik.» (1852) Es gibt in der Tat keine Republik ohne Republikaner, keine Teilhabe ohne Teilnahme. Keller sah in jedem Schweizer einen Politiker.

Kritik an den Zürcher Eliten

1855 kehrte Keller mittellos von einem Stipendienaufenthalt in Berlin zurück. Er war wirtschaftlich gescheitert, aber er kannte nun seinen Wert. In Zürich trat er als «freier Schriftsteller» auf – ein Beruf, den es so noch nicht gegeben hatte. Der Schweiz ging es unter liberaler Führung immer besser. Keller nicht. Er hauste wie Pankraz der Schmoller bei Mutter und Schwester. Im «Fähnlein der sieben Aufrechten», 1861 veröffentlicht, beschrieb er eine Schweiz, die es schon nicht mehr ganz gab. Er hielt seiner Gegenwart den Spiegel vor, indem er sie von der Schweiz von 1848 abhob. Er war ein Rückkehrer, dem nicht gefiel, was er sah. Die Welt hatte sich ohne ihn weitergedreht. Es ist, als ob er in der deutschen Ferne sein Schweiz-Bild glorifizierend mumifiziert hätte.

An der Macht war der grossbürgerliche Alfred Escher. Auf der Grundlage eines gewaltigen Vermögens und finanzieller Unabhängigkeit häufte er die politischen und wirtschaftlichen Funktionen, sammelte Ämter, Posten und Präsidien. Er war ein Staatsmann wie kein anderer und diente dem Land mit Wirkungen weit über seine Zeit hinaus. Unter seiner Führung industrialisierte sich die Schweiz. Die Eisenbahnen beschleunigten den Austausch. Banken und Versicherungen nahmen einen raschen Aufschwung. Statt der alten Schanzen thronte nun der Semperʼsche Tempel für die Eidgenössische Polytechnische Schule über der Stadt. Auf manchen Verträgen unterschrieb Escher gleich mehrfach unter verschiedenen Titeln. Er trieb die Modernisierung radikal voran, kümmerte sich aber wenig um die sozialen Folgen des wirtschaftsliberalen Fortschritts.

In Opposition zum Wirtschaftsliberalismus Escherʼscher Prägung entwickelte sich um 1860 die Demokratische Bewegung. Keller wandte sich ihr zu. Ihn störte die Dominanz des Wirtschaftlichen. Unternehmertum sollte eingebettet bleiben ins Politische. Er lehnte die Preisgabe politischer Prinzipien zugunsten angeblicher wirtschaftlicher Zwänge ab und dachte mehr ordnungspolitisch als «pragmatisch». Keller, der mit «linken» Immigranten verkehrte, propagierte einen «tiefer gefassten Patriotismus». Er wandte sich gegen den ökonomischen Staat, gegen die «Geldmenschen» oder «Geldthiere». 1856 schrieb er Ludmilla Assing, die Kehrseite der schweizerischen Festfreude sei, «dass die Schweizer mehr als je, und so gut wie überall, nach Geld und Gewinn jagen». Seine Kritik am entfesselten Wirtschaftsliberalismus, an dem er nicht teilhatte – er hat nie irgendwelche grösseren Investitionen getätigt, nie ein Haus oder Aktien gekauft, nie spekuliert –, war eine Kritik an der Bedeutung des Geldes. Er wehrte sich dagegen, Menschen nach ihrem materiellen Vermögen einzuschätzen. «In einem glücklichen und freien Staat», schrieb er 1847, müsse «jedes Glied als Bürger Geltung haben». Pestalozzi sei arm gewesen, aber doch wichtig, Kantone waren arm, aber doch «ehrwürdig» (1861).

Ganz zu den Demokraten lief Keller aber nicht über. Insbesondere unterstützte er ihre Forderung nach einer direkten Demokratie und mehr Mitsprache des Volkes nicht. Von den Kommunisten distanzierte sich Keller sogar ausdrücklich.

Die Staatsschreiberjahre

Und dann das: Keller, der Kritiker des «Systems Escher», vertauschte über Nacht die Fronten. Er, der den Demokraten wohl in den Ohren klingende Positionen vertreten hatte, bewarb sich 1861 als Staatsschreiber des liberal regierten Kantons Zürich und wurde, obzwar für das Amt wenig qualifiziert, vom Regierungsrat gewählt. Die Hintergründe dieser Wahl sind nicht bis ins Letzte geklärt. Im Vorjahr hatte Keller geschrieben, die neue Ära der Schweiz sei noch «zu jung, als dass das Sitzungszimmer des Bundesrathes schon zu einem angenehmen Schmollwinkel für bezähmte Widerspenstige werden sollte». War er nun selbst ein gezähmter Widerspenstiger? Man hat darüber, dass die Liberalen Keller wählten und dass er die Wahl annahm, viel gerätselt. Wenn es ein Ziel der Herrschenden war, Kellers Kritik zum Schweigen zu bringen, dann wurde es erreicht; seine Polemik verstummte.

Aus Kellers Sicht lagen mehrere Beweggründe auf der Hand. Die Literaturprofessorenstelle am neuen Poly hatte er 1854 abgelehnt, nun konnte der Kantonsschuldner nicht nochmals ein angetragenes Amt ausschlagen. Auch die Literatur lieferte kein Gegenargument. Es war nicht so, dass er eine Phase blühender Produktion abrupt beenden musste; vielmehr hatte er seit den «Leuten von Seldwyla» nichts Grösseres mehr zustande gebracht, und das Amt liess ihm auch fortan «Musse zu einem besonnenen u [ja, stimmt so] ruhigen Schaffen auf literarischem Felde», wie er 1865 schrieb. Vor allem aber handelte es sich um die bestbezahlte Verwaltungsstelle des Kantons, was Keller ermöglichte, seine finanzielle Situation endlich zu bereinigen. Geschlagene fünf Jahre brauchte er, bis er seine Schulden abgetragen hatte, erst ab dem sechsten Dienstjahr war er in der Lage, Vermögen zu versteuern. Es war eine Genugtuung gegenüber der Mutter: Der Sorgensohn hatte sich doch noch bewährt und war zum bürgerlichen Erwerb aufgestiegen. Und nicht zuletzt war die Wahl auch für Keller selbst eine unglaubliche Anerkennung. Einst zu Unrecht von der Schule gewiesen, wurde er nun vor aller Augen, bestandenen Alters, rehabilitiert. Die Stelle verschaffte ihm gesellschaftliches Ansehen, brachte ihn in täglichen Kontakt mit den führenden Politikern seiner Zeit. Und sie liess ihm weniger, aber immer noch genug Zeit für die Poesie: In den Jahren als Beamter hat Keller nicht wesentlich weniger geschrieben als in den Jahren zuvor.

Allerdings darf man die Staatsschreiberstelle, die erst 1831 mit der Regeneration geschaffen worden war, nicht überhöhen, wie es zuweilen geschieht. Von Keller gingen keine politischen Impulse aus. Er war Teil der Verwaltung, nicht Mitglied der Regierung. Seine kreative Fantasie fokussierte sich weiterhin auf die Literatur. Sein Amt beanspruchte ihn in dieser Hinsicht kaum: Keller leistete pflichtbewusst seinen Dienst, verfasste als Atheist Bettagsmandate und unterschrieb eine Unmenge prosaischer Schriftstücke: Pässe, Heimatscheine, Reiseausweise, Apothekerpatente, Metzgerrechte und dergleichen mehr. Er hat kein einziges Gesetz entworfen. Wäre er nicht Gottfried Keller, der Dichter gewesen, niemand hätte sich an ihn als Staatsschreiber erinnert2.

Der dieser Funktion zugeschriebene Glanz ergibt sich, scheint es, vor allem aus ihrer Bezeichnung; «Regierungsadjunkt», «Kanzleivorsteher» oder nur schon «Kantonsschreiber» wären realistischer. Der Kanton Zürich wurde durch die vom Volk gewählten Mitglieder von Regierung und Parlament repräsentiert, nicht durch angestellte Verwaltungsbeamte.

Indem Keller der geschlossen liberalen Regierung diente, protokollierte und unterschrieb, was diese entschieden hatte, und durch seine tägliche Besprechung mit dem Regierungspräsidenten lernte er die «liberalen Biedermänner», wie er sie später nannte, schätzen. Wenn er dem Kanton Zürich wegen der Stipendien und der Staatsschreiberstelle viel zu verdanken hatte, dann musste er diesen Männern danken – an erster Stelle Alfred Escher. Der Kleinbürger Keller gehörte von seiner Herkunft her nicht zum Milieu der Eschers. Die wirtschaftliche Diskrepanz war krass: Escher war sagenhaft reich, Keller genoss, nun auch schon über vierzig, Kost und Logis im Haushalt der Mutter. Aber die beiden waren Jahrgänger, und Keller anerkannte Eschers Arbeit, er achtete seine ungemeine Leistung für das Land, sein Arbeitsethos. Er würdigte auch andere führende liberale Politiker, wie Johann Jakob Rüttimann und Jonas Furrer, die sich für das Allgemeinwohl aufopferten, obwohl sie sich dank ihres Vermögens ein schönes Leben hätten machen können, ja die sogar als altruistische Milizler auf ein viel höheres Einkommen verzichteten. Keller blieb Escher bis zuletzt verbunden, noch nachdem dieser aus allen Mandaten entfernt worden war, und machte sich nach seinem Tod für ein Escher-Denkmal stark.

Alfred Escher war selber Staatsschreiber gewesen. Ihm diente das Amt als Sprungbrett in die Regierung. Ein Regierungsrat Keller ist hingegen schwer vorstellbar. Dafür fehlten ihm nicht nur das Interesse, sondern vermutlich auch die Qualifikation und Eignung. Ihm ging alles ab, was Escher prototypisch auszeichnete: Reichtum, sozial gehobener Status, aber auch konkrete politische Visionen und realpolitische Instinkte.

Resignierte Distanz: das Alterswerk

Überraschend wurde Gottfried Keller von den Demokraten als Staatsschreiber bestätigt, welche die liberale Zürcher Regierung 1869 ablösten – obwohl ihm manche von ihnen Abwendung von demokratischen Ideen vorgeworfen hatten. Das «Verharren» im Amt ist nur bedingt als staatsbürgerliche Tapferkeit auszulegen. Keller blieb, wie er später bekannte, aus finanziellen Gründen, hatte nun aber doch einen weiteren «Beweis» dafür erbracht, nicht eine Partei, sondern «den Staat» zu vertreten. Er war so wenig ein flammender Wirtschaftsliberaler wie ein Demokratenhasser.

Als Kellers Ruhm in den 1870er Jahren auch in Deutschland wuchs, mehrten sich auch seine literarischen Einkünfte. Nun konnte er es sich leisten, seine Stelle 1876 aufzugeben. Befreit von Rücksichtsnahmen, markierte er wieder vermehrt Distanz und erneuerte seine Kritik an zeitgenössischen Erscheinungen, insbesondere am herrschenden Materialismus. Dieser erreichte nun auch die Architektur Zürichs: Massenhaft wurde abgerissen, so das ganze Kratz-Quartier. Der frühere Fröschengraben wurde zur Bahnhofstrasse, das Bahnhofsgebäude wurde gebaut, das Gebäude für die Kreditanstalt, die Seeuferpromenaden wurden aufgeschüttet. Mit der Industrialisierung ging ein starkes Bevölkerungswachstum einher, die demokratischen Rechte wurden ausgebaut, wobei Keller insbesondere die Einführung des Proporzwahlrechtes kritisch beäugte. Fast alles wurde in dieser Phase in Frage gestellt. Welches waren die Ideale, die blieben, nach denen man sich richten konnte? Kellers Alterswerk zeigt Ernüchterung, Resignation, Skepsis gegenüber der veränderten helvetischen Wirklichkeit, die er als Verfall, ja als Verluderung wahrnahm. Er begriff Politik nicht als dynamisches Geschehen, sondern klammerte sich an die Schweiz, die 1848 geglückt war.

Wenn Keller seine Haltungen und Meinungen mitunter auch geändert hat, manche Gegnerschaften blieben ehern bestehen. Die «Aristokratie», wie das Zürcher Ancien Régime sie gebildet hatte, war der natürliche Gegner schon für seinen Vater Rudolf Keller gewesen, den Drechslermeister aus der Landschaft. Sein Liberalismus umfasste die Überwindung der alten Eliten, Meritokratie, Demokratie, Republik, Säkularismus, Antiklerikalismus. Der Sohn führte diese Positionen fort. Er bekämpfte das 1798 verabschiedete Aristokratenwesen, das aber auch danach, in der Restauration, nochmals totgeschlagen werden musste, die Konservativen, die er auch «Finsterlinge» nannte.

Als Zürcher war er, obwohl ihm unter Feuerbachs Worten der Gottesglaube abhanden kam, Kulturprotestant und wandte sich gegen den Katholizismus und Jesuitismus der Innerschweizer Kantone. Die Diesseitsbezogenheit verstärkte nicht nur seinen Liberalismus, in den Gott und die Unsterblichkeit nicht passten. In umfassenderem Sinn wurde Politik ihre natürliche Konsequenz: Wenn es keinen Himmel gab, der auf einen wartete, dann war er hier und heute selber herzustellen.

Jedem seinen Keller

Mit seiner vielfarbigen Biografie bietet Keller allen politischen Couleurs etwas. Der Sänger vaterländischer Lieder hier und der Kritiker kapitalistischer Auswüchse dort. Die eine Seite freut sich an Kellers patriotischen Äusserungen, den zahlreichen Festgedichten. Die andere Seite wird mit kritischen Äusserungen zu Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, gegen Moralzerfall und zu grosse Reichtumskonzentration bedient. In der marxistischen Literatur hatte Keller dank einiger wuchtig antikapitalistischer Sentenzen einen schönen Platz. Einige Schlüsselzitate, zum Herzstück eigener Anklage gemacht, dürfen in keinem Aufsatz eines Linken oder eines Rechten fehlen, der Keller für seine Seite reklamiert. Dabei werden Aussagen in seinem fiktiven Werk, selbst Figurenrede, oft umstandslos dem Verfasser zugeschrieben.

Natürlich geht es um Deutungshoheit. Max Frisch wollte dem «Establishment» den Vaterlandsdichter wegnehmen und den aktuellen «Machthabern» einen linken Keller entgegenstellen. In seiner Besprechung des Keller-Buchs von Adolf Muschg 1977 bezeichnete er ihn als seinen «liebsten Landmann». 1982 meinte er im Vorwort zu einer amerikanischen Keller-Sammelausgabe, Keller wäre heute über die Schweiz entsetzt. Er machte Keller zum Vorgänger oder aus Keller Frisch. Lieblingswaffe linker Rhetorik ist Kellers Spätroman «Martin Salander». Für Bichsel war der «Salander» in der Jugend «das Buch über den misslungenen Liberalismus». Aber der Roman, 1886 erschienen, spielt zu der Zeit, die auf die Annahme der Verfassung mit der direkten Demokratie folgte, da die Demokraten in Zürich an der Macht waren; Demokraten, von denen sich Keller distanzierte. Als er den Maximiliansorden des Staates Bayern annahm, beklagte er sich, dass ihn «sozialdemokratische Schimpfblätter […] sofort einen Ordensjäger und Fürstendiener» genannt hätten (19.5.1883 an Th. Storm). «Martin Salander» ist kein antikapitalistischer Roman. Gegen das kapitalistische Geldverdienen in Nord- und Südamerika merkt der Erzähler nichts an. Salanders in kurzer Zeit erlangter brasilianischer Profit dient dann vielmehr als Grundlage für das fernere Wohlergehen zu Hause. Was «Martin Salander» freilich enthält, ist eine Kritik jener kleinbürgerlich-kleinstädtischen Wirklichkeit, wie sie Keller von Glattfelden und Umgebung, Eglisau oder Regensberg nur zu gut kannte. Aber diese Kritik hatte sich schon in Seldwyla I und II niedergeschlagen und war nicht auf die Skandale und Veruntreuungen der 1870er Jahre angewiesen.

Ein berühmtes Zitat im «Kampf um Keller» ist jenes des Zimmermeisters Frymann im «Fähnlein der sieben Aufrechten»: «Wie es dem Manne geziemt, in kräftiger Lebensmitte zuweilen an den Tod zu denken, so mag er auch in beschaulicher Stunde das sichere Ende seines Vaterlands ins Auge fassen […]. Ist die Aufgabe eines Volkes gelöst, so kommt es auf einige Tage längerer oder kürzerer Dauer nicht mehr an, neue Erscheinungen harren schon der Pforte ihrer Zeit.» Frisch meinte 1977, Keller könne sich die Menschheit durchaus ohne Vaterland vorstellen: eine kleine Provokation im ewigen Kalten Krieg. Aber die Liebe zu einem «Vaterland» und die Überzeugung, dass es, wie ein kurzer Blick auf die Geschichte lehrt, realistischerweise einmal sein Ende finden wird, schliessen sich ja nicht aus, im Gegenteil: Das Wissen um die Endlichkeit des Geliebten erhöht seine Kostbarkeit. Der Gedanke, dass die Schweiz sich einmal auflösen könnte, war kein Skandalon, sondern der einfache Schluss aus der Erfahrung, dass es die Schweiz von 1848 zuvor nicht gegeben hatte und also auch einmal wieder nicht mehr geben konnte.

Ein «Nationaldichter», der Zürich kaum je verliess?

Was Goethe in Deutschland, ist Keller in Zürich: Er hält für jede Gelegenheit ein Zitat parat, und kein Fest- und Staatsredner, der damit sein Werk nicht aufputzte. Eine Stimmgabel, die uns jederzeit den rechten Ton hören lässt. Schon zu Lebzeiten wurde Keller als «Nationaldichter» tituliert: vom Bundesrat zu seinem 70. Geburtstag. Die Rede hatte Josef Viktor Widmann geschrieben. Von ihm stammt auch das dann von Conrad Ferdinand Meyer aufgenommene Wort vom «Schutzgeist» der Heimat, das sich über die Zeiten hielt. Schon damals bestand der überwältigende Wunsch nach einer Person, die mit ihrem Sprachwerk das nationale Ganze umspannt und beglänzt. Sie ist repräsentativ, indem sie in Worte fasst, was allen auf der Zunge liegt. Sie sagt das Nötige zur richtigen Zeit, und sie sagt es prägnant.

In Friedenszeiten ist der Wunsch nach Nationaldichtern weniger ausgeprägt. Auch schleichen sich individualistische Tendenzen ein, jeder wählt sich widersprüchlicherweise letztlich seinen «Nationaldichter» selbst. Aber unter Druck von aussen erfüllt der Nationaldichter staatserhaltende Funktionen. Zweimal im vergangenen Jahrhundert, 1919 und 1940, fielen Keller-Jubiläen in schwierige Zeiten, in denen der Bedarf nach nationalen Figuren akut wurde, zu denen man hochblicken konnte, um sich zu halten und zu orientieren. So wurde die Stellung Kellers als Schweizer Nationaldichter im Rahmen der geistigen Landesverteidigung erhärtet. In einer Rede vor Schülern von 1940, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, nannte der Germanist Karl Schmid Keller einen «Staatsbürger wie kein zweiter Dichter», ja sogar den «grössten schweizerischen Staatsbürger».

Fragen sind angebracht. Hier nur eine: Wie gut kannte Keller die Schweiz überhaupt? Er ist kaum über Zürich hinausgekommen. Einmal in Bern. Einmal auf der Rigi. Nie in der Romandie. Nie im Engadin, nie auf dem Gotthard, nie im Wallis. Kellers Schweiz-Bild scheint unvollständig. Aber ganz ohne Idealismus und Fiktion geht es bei keiner Staatsgründung, auch nicht in der Schweiz. Kurt Guggenheim vermutete, für Keller habe es eine «legendäre Schweiz» gegeben, die nicht oder nicht mehr der Wirklichkeit entsprach, eine «idealisierte Schweiz», wie sie im «Fähnlein der sieben Aufrechten» gezeichnet wurde. Und auch schon der Zeitgenosse Adolf Frey hat zu bedenken gegeben, dass «der Dichter als weiland Pfadläufer der Romantik sich nie völlig von einer etwas mystischen Vorstellung des Volkes frei macht».

Wiederholt erhält man den Eindruck, Kellers Patriotismus sei die Kehrseite seiner Einsamkeit, Ungeselligkeit, Grobheit, gesellschaftlichen Ungeschliffenheit, seines Lebens ohne Frau und Gefährtin. Der Junggeselle liebte – wenigstens – Helvetia. Kellers Patriotismus stand dabei über dem politischen System. 1848 gehörte die politische Ordnung zum Patriotismus, später blieb dieser trotz der politischen Ordnung, die Keller als aus dem Ruder gelaufen empfand. Das Vaterland, und sei es noch so fiktiv, wird zum einzigen Ort möglichen Heils, der Flucht aus der Resignation, einer Erlösung von den biografischen Abgründen.

Wo stünde Keller heute?

Keller sah sich einem ganz anderen Vaterland, einem ganz anderen Staat gegenüber als dem heutigen. 1850 wies der ganze Kanton Zürich 250 000 Einwohner auf, fünfmal weniger als heute. Die Frauen waren vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen. Man wies dem Staat nur einen Bruchteil heutiger Aufgaben zu. Auch das Lebensgefühl im 19. Jahrhundert unterscheidet sich von unserem ganz erheblich. Es gab keine Versicherungsmentalität, keine Sozialversicherungen. Armut war allgegenwärtig. Und so darf man Kellers verschiedene politische Haltungen nicht unbesehen in die Gegenwart projizieren. Er vertrat Positionen, die man unter Aufbietung begriffsgeschichtlicher Lockerheit «links», und andere, die man «rechts» nennen könnte. Ob Keller heute aber ein Linker, Rechter, Liberaler, Grüner wäre, ist Spekulation. Vielleicht ein Sozial- oder Grünliberaler? Aber Keller, dessen Fühlen und Denken dem 19. Jahrhundert gehörten, wäre heute nicht Keller.

Sicher ist: Gottfried Keller hat sich immer wieder eingemischt und oft kritisch, aber auch oft zustimmend Position bezogen. Liberal war, dass er im Sinne der Aufklärung selber dachte und erkannte, dass der Wirtschaftsliberalismus der sozialen Korrektur bedurfte. Man wusste bei ihm, abgesehen von Themen wie Republik und Bürgerpflichten, nicht von vornherein, wofür er stand. Er war kein Parteigänger, weder der Macht noch der Opposition, und kritisierte Auswüchse auf allen Seiten. Das hebt ihn als politischen Autor ab von der Öde vieler heutiger Essayisten, Kolumnisten und Regisseure, bei denen immer dieselbe Leier zu hören ist.

  1. Eine ausgezeichnete Übersicht über Kellers politische Publizistik und politisches Wirken bietet Michael Andermatt. In: Ursula Amrein (Hrsg.): Gottfried-Keller-Handbuch (2. Auflage). Stuttgart: Metzler, 2018.

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