Adrian Witschi:
«Hoffentlich ist niemand verletzt»
Auf einem US-Propagandaposter aus den Vierzigern räkelt sich eine Femme fatale vor der Weltkugel, darüber in grossen Worten: «VENERAL DISEASE COVERS THE EARTH» – Syphilis und Gonorrhoe lauern an jeder Ecke. Eine Erkenntnis, zu der man auch nach der Lektüre von Adrian Witschis Erstlingsnovelle gelangt.
Die Handlung ist simpel: Vinzent, um die 30, lebt in Zürich, macht irgendwas mit Me-dien und besitzt Rückgrat und Entscheidungsfähigkeit eines Regenwurms. Wie sich seine Freundin Ava je in so eine Schiessbudenfigur verlieben konnte, ist dem Leser von Anfang an ein Rätsel, zeigt sich der Protagonist doch nicht einmal fähig, beim Einkauf im Brocki-Land (eine Hauptbeschäftigung des Zürcher Bobos) das «richtige» Tellerset für den gemeinsamen Haushalt zu wählen. Auch als ihn ein alter Freund nach Bali auf eine Hochzeitsfeier einlädt, entpuppt sich Vinzent als eher ungeschickt im Umgang mit den gesellschaftlichen Erwartungen: «‹Und was schenkst du jetzt dem Tom?›, fragt Ava und führt den Becher zu ihren Lippen. ‹Ich denke: schwarze Schokolade mit Nüssen.›» Auch beim folgenden Zwischenstopp in Jakarta braucht Vinzent ziemlich lange, um zu verstehen, dass die Beamten, die seinen Pass für ungültig erklären, einfach gerne bestochen werden wollen. Als dann der Groschen (mehr oder minder wörtlich) fällt, scheint es, als würde Vinzent endlich anfangen, selbst zu denken – doch leider nur auf dem Niveau eines Teenagers, dessen Frontallappen noch nicht ausgereift ist. Eine Reihe von Fehlentscheiden gipfelt in einer Nacht, die der gute Vinzent mit zwei Indonesierinnen verbringt. Danach geht es, so viel sei verraten, für den Antihelden ziemlich schnell bergab, und das hat nicht nur mit dem bunten Andenken zu tun, das er von der Nacht mit heimnimmt.
Wer nicht erwachsen wird, den bestraft das Leben. Könnte man behaupten. Und Witschi sei, indem er darauf hinweist, so der «Tages-Anzeiger», der «Chronist der Generation Y». Die These ist mehr als gewagt, denn die Moral von der Geschichtʼ ist beileibe nicht neu: «Echte Männer sind monogam, fleissig und entscheiden nicht nur für sich, sondern am besten auch gleich für ihre Frauen – und wer dieses Rollenbild nicht erfüllt, wird bestraft. Vom Leben. In den Lenden.» Denn auch wenn einen all die herumspritzenden Körperflüssigkeiten darüber hinwegtäuschen könnten: Witschis Novelle ist eine Art «Ueli der Knecht» für Zürcher Szenis.
Sollte man deswegen auf die Lektüre verzichten? Keinesfalls. Denn Witschi besitzt eine enorme Beobachtungsgabe. Der Erzähler lässt sich auf alle Facetten der Welt ein: von der Schilderung der Webseite eines Pizzakuriers über die barocke Beschreibung eines opulent gefüllten Frühstückstisches bis hin zu einer sehr ausführlichen Sexszene kennt er keine Berührungs- und Beschreibungsängste. Die Fahrt durch den Hafen von Jakarta ist ein gutes Beispiel für Witschis ehrlichen Blick. «Ich bin umgeben von Scheisse! Keine Plastikflaschen und Chipspackungen, sondern einfach nur Scheisse. Menschlicher Kot, in den verschiedensten Formen und Beschaffenheiten. Kleine, ausgefranste Klumpen auf der linken Seite des Bootes, rechts eher Kackflocken und -schnipsel.» Beim Lesen jagt ein Bild das nächste, Angst und Schrecken folgen auf Lust und Lebensfreude. Der grosse Generation-Y-Roman ist das nicht, aber ein Stück lebens-praller Prosa allemal.
Adrian Witschi: Hoffentlich ist niemand verletzt. Zürich: Salis, 2015.