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Bild © Sophie Stieger

Spiegel, das Füchslein

Ein Märchenreigen aus 2019 für 1819. Refresh Keller #2.

Es war einmal vor vielen, vielen ­Jahren eine Frau, die folgendes schrieb.

Wir hören:

Ich habe meine Akten abgelegt, ich habe die Akte hingelegt, ich habe mich verschworen und fortgelegt und dann hat jemand die Akten umgestossen und da fand ich mich wieder in den alten Taten. Meine Hand gab auf, der Geist gab meine Hand auf. Sie blieb liegen am Schoss, sie schoss nicht in die Wunden der Liegenden, sie trat nicht nach Fliegen, sie blieb liegen. So wie sie lag, so lag ich, Blatt schief im Wind. Ein Herbst, der nicht aufhörte, ich drehte und wendete das Blatt, aber ich blieb leer, ich sagte, ich bin Leinwand doch für dich und dich, ich bin Leinwand für Prinzipien, irgendjemand muss doch hier die Hoffnung tragen – selbst wenn sie noch so schwer ist –, wie haben wir denn hier die Erdenzeit, auf der wir uns doch mit ihr drehen, oh komm, Blatt, wende dich,

sage ich zum Blatt

Es wendet sich

nicht

Letztlich ist alles Vorhersehung oder Nachsehung, und ­alles ist genauso Zufall, die beiden sind Schwestern im Geiste

Und jetzt, da das Blatt liegt, will ich ins Kirchenschiff noch einmal, dorthin ins Kirchenschiff, noch einmal den Kopf anwinkeln, noch einmal den Blick hinauf, er weiss, wie ich hier bin, du weisst, wie ich hier bin, man kann mich doch sehen, verdammt, ich selbst, oh, wie sehe ich diese Muskeln, ich sehe, wie sie schwinden, Blatt, wende dich, sage ich, ich sage, ich bin doch da, die Hoffnung zu mehren, ich bin doch da, ich will doch einen Zweck haben, doch wenn du mir nicht sagst, was mein Zweck sein täte, wie sollte ich dann eine Tat haben, wo du mir verschweigst, und ich suche Tag um Tag Tat um Tat das Gespräch, Stund um Stund, liegʼ ich mir die Hand wund und ich frage dich nach dir

.

.

.

Wenn man den Tieren nimmt, was sie ausmacht, wenn man ihnen ihre feine Würde, ihre zierliche Würde nimmt, dann werden sie feig und mutlos, das Fell zerzaust und all die Vernunft und die Moral gehen baden.

So sinnierend fiel sie plötzlich in einen Schlund, und schrieb weiter:

Es war einmal die Wahrheit, sie schepperte im Mondenschein.

Es war einmal die Wahrheit, sie war nicht mal ganz unrein.

Es war einmal die Wahrheit, die sass da fast allein.

Es streichelte ihr jemand den Rücken, direkt beim Bücken, denn sie war sehr klein, man musste sie suchen wie eine Anstecknadel. Oder wie eine Laus.

Ganz klein und zartfühlend, die kleine Wahrheit.

DER, DER DIE WAHRHEIT MACHT,
MACHT AUCH DEN WIND,
MIT DEM SIE VERTEILT WIRD:

Es war einmal der, der die Wahrheit machte, denn sie konnte nicht gefunden werden, da dachte er sich: Wahrheit, ich finde dich nicht. Lass mich dich entstauben aus meinem Hirn, denn jeder Körper wisse doch wohl, was der nebendran wisse, und so begann er die Wahrheit zu verkaufen. Er brannte sie auf CDs, in Zeitungen hinein, er legte sie aus, wo auch immer, sie gehörte ihm, sie verbreitete Wundbrand und alles fiel ihm zu, er war der Zufall, aber der Zufall war beschönt und ihm gehört die Wahrheit bis heute.

Weiter schrieb sie…

Eine Ehe wie viele

Es war einmal eine Mäusefamilie; Mausvater, Mausmutter, drei Mauskinder. Es war der Winter gekommen, der war schrecklich schneidend kalt. Der Mausvater fand die Mausmutter mit erlahmendem Herzschlag im Schnee, sie starb in seinen Pfoten. Es ist der Winter weitergegangen, und der Nussvorrat schrumpfte beharrlich dahin. So also nahm der Mausvater seine Maustochter Selda oder Salmonella oder Stella und brachte sie zu einem Eichhörnchenmann: Dich muss man verheiraten, sonst geht das nicht.

Das Eichhornmännlein sah die Maustochter Sarah oder Selma oder Soraya an und ejakulierte heftig geistig, dann gab er ihr die Hand und schaute dabei nicht in ihr Gesicht hinein: Mausi, dich schmaus’ ich. Der Mausvater befand den familiären Hungersnotstand für noch nicht so gross, dass er Seraphina, Sarina oder Svetlana dem Eichhornmännlein überlassen wollte, danke, tschüss.

So gingen sie zum nächsten Hofierer; Sendla, Seraina, Susanne schüttelte den Kopf, Papa, was wird das, der Vater schleifte sie, es wird ein Mittel gegen Hunger, unseren Hunger, sollen deine Brüder etwa erliegen ihrem Hunger? Man lernt, sich zu lieben, übrigens. Sodann brachte er sie zum Fuchs, der ass sie beide auf.

Es war einmal ein Fuchs, der konnte vieles essen. Und hatte selten Hunger.

// Das Geräusch wirbelnder Blätter //

ERWÄGUNGEN ÜBER
DAS GLÜCK EINER MACHT

Also, wenn mir jemand eine Krone schenken würde

Vielleicht der Wald am Wegesrand

Dann würde ich sie schon aufnehmen in die Hand

Ich würde sie auch drehen in der Hand

und ich wüsste ihr Gewicht zu spüren

Sie wäre vielleicht viel leichter, als man gemeinhin denkt

Wenn man sie so erfühlt in ihrer Nichtsheit

Und dann, wie könnte ich sie dann

Nicht kurz tragen

Man muss schon sagen

Abgelegt ist sie schnell

Ahja.

Nur, das alles hat sie nicht geschrieben, denn sie hiess ­Nettchen und mit ihr war fleissig zu belieben.

UND WENN SIE NICHT GESTORBEN IST,
DANN NÄHT SIE NOCH HEUTE INITIALEN AUF KOPFKISSENBEZÜGE.

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