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Alain Claude Sulzer: «Postskriptum»

Alain Claude Sulzer:
«Postskriptum»

 

Postskriptum – Erinnern Sie sich, wann Sie zuletzt ein solches verfasst haben? Wahrscheinlich geht es Ihnen ähnlich wie mir: In Zeiten elektronischer Kommunikation und Textverarbeitungsprogramme lassen sich persönliche Mitteilungen beliebig oft verändern, Gedanken können nachträglich eingefügt oder gelöscht werden. Ein PS braucht es daher nur noch selten.

Aus der Zeit gefallen sind auch einige Schilderungen in Alain Claude Sulzers neuem Roman mit ebendiesem Titel: das plüschig und doch mondäne Hotelleben im Waldhaus in Sils Maria während der 1930er und 40er Jahre genauso wie der gesellschaftliche Umgang mit Homosexualität. Das Engadiner Hotel vereint als Schauplatz zunächst alle Hauptfiguren des Romans, bevor sie von den Wirren der Zeit und des Lebens in die Welt zerstreut werden: Lionel Kupfer, den gefeierten Filmstar, heimlichen Juden und Homosexuellen, Walter, den kleinen Postangestellten, grossen Bewunderer Kupfers und gesellschaftlichen Einzelgänger, dessen Mutter Theres, neuerdings Büglerin im Waldhaus, eine einfache Frau, die lebenslang leidet, unter ihrem Analphabetismus genauso wie unter der gesellschaftlichen Bürde der alleinerziehenden, unverheirateten Frau. Und Eduard, den etwas zwielichtigen, aber geschäftstüchtigen Kunsthändler – und grosse Liebe Kupfers. Jeder dieser Charaktere wird von Sulzer gewohnt detailgenau, eindringlich und überzeugend geschildert, ebenso wie deren «distanzierte Nähe» zueinander, die ihre Beziehungen durch zu viel Unausgesprochenes belastet. Dabei stellt sich die Zeit im Waldhaus als der neuralgische Punkt in ihren Biographien heraus, nach ihrem Aufenthalt dort ist nichts mehr wie zuvor: Als sie das Etablissement verlassen, kann nur noch von einem post Waldhaus ihrer Leben die Rede sein.

Persönliche biographische Scheidewege alternder Alphatiere sind ein bekanntes Sulzer-Thema, ebenso die Szenerie der einstigen Grand Hotels und die homosexuelle Liebe. Selbst das Kompositionsprinzip disparater und dennoch punktuell miteinander verbundener Handlungsstränge ist bekannt. Dennoch unterscheidet sich «Postskriptum» in einem zentralen Aspekt erheblich von seinen «Vorgängern»: Neben der eindringlichen Charakterzeichnung versucht Sulzer auf 250 Seiten so viel Milieuschilderung und Zeitgeschichte wie irgend möglich unterzubringen. Er liefert den Abriss der damaligen Filmgeschichte z.B. durch stets bemüht beiläufiges Einflechten grosser Namen wie dem des Stummfilmlieblings Bruno Kastner oder bekannter, aus dem Filmmilieu berichtender Zeitungsjournalisten wie Siegfried Kracauer oder Bella Fromm, thematisiert die zweifelhafte Praxis der «Rettung» von Kunstgegenständen todgeweihter Juden, widmet sich der Schilderung des zunehmend in Bedrängnis geratenen Homosexuellenmilieus sowie der alles überschattenden politischen Entwicklungen im Deutschland der Nationalsozialisten. An einigen Stellen will der Roman denn auch zu viel auf einmal – und verliert so etwas von seiner durch die hervorragenden Figurenportraits aufgebauten Glaubwürdigkeit. Dichte und Explizitheit der Personenzeichnung erwecken so den Leseeindruck, schmückendes Beiwerk einer eher im Dienste historischer Wissensvermittlung stehenden Schilderung zu sein. Hätte Sulzer auf Sätze wie «Zwei Tage später würde sich die Welt verändert haben, und viele würden mit wehmütigen Gedanken auf das letzte Wochenende zurückblicken, an dem Hitler noch nicht an der Macht gewesen war» verzichtet bzw. notwendige Hintergrundinformationen in einem tatsächlichen PS unterzubringen versucht, und stattdessen – wie gewohnt – auf die Dramatik der einzelnen Biographien gesetzt, so wäre «Postskriptum» wohl mehr geworden als blosser Anhang seiner eindrücklichen Bibliographie.

Alain Claude Sulzer: Postskriptum. Berlin: Galiani, 2015.

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