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Anna Felder: «Quasi Heimweh»

Anna Felder: «Quasi Heimweh»

Wie helvetische Fabrikarbeiterfamilien ihr kümmerliche Habe packten und nach Buenos Aires aufbrachen.

Nur wer nie von seiner Heimat getrennt wurde, antwortet auf existenzielle Fragen mit Banalitäten: Cervelat und Fondue sind der Schweizer häufigste Antworten auf die Frage, was ihnen im Ausland am meisten fehle. Offenbar haben sie vergessen (oder verdrängt), wie viele helvetische Fabrikarbeiterfamilien einst ihre kümmerliche Habe packten und nach Buenos Aires aufbrachen – einfache Fahrt, von der Gemeinde bezahlt.

So ausserstande Schweizer sind, sich ihre eigene Emigrationsgeschichte zu vergegenwärtigen, so distanziert zeigten sie sich den italienischen Einwanderern gegenüber. Die schon damals in Aarau wohnhafte Tessiner Autorin Anna Felder hat jenen Einwanderern 1970 in einem bis heute wunderbar poetischen und furchtbar traurigen Buch eine Stimme gegeben: «Quasi Heimweh», ein Roman über zwei Welten, die der Einheimischen und die der Eingewanderten, dieses Jahr vom Limmat-Verlag in der Originalübersetzung von Federico Hindermann neu aufgelegt.

Mit scharfem Auge für die Details beobachtet die aus Italien eingewanderte Ich-Erzählerin die gleichgetakteten und doch so verschiedenen Alltagswelten. Hier Fredy und Bethli, dort die jungen Italiener um die Erzählerin, Lehrerin wie die Autorin: der Secondo Gino, der Bruder Gianni, die heimliche Liebe Fabio. Die Geschichte mäandriert zwischen der Sehnsucht nach der verlassenen Heimat und dem durchaus lebenswerten Hiersein, dem aber doch etwas fehlt. Aber eben nicht nur der Caffè. Es ist die Sprache – Worte und Wendungen (auf Italienisch), die man als «Kind zu Hause gelernt hatte und nun in jedem Klang mit einer ganz versunkenen Welt wieder entdeckte». Das müssige Zu-Hause-Sitzen am Sonntag, mit Pranzo, Calcio und Bambini, ist eine solche Welt. Die Schweizer dagegen standen freiwillig noch früher auf als sonst, um mit Feldstecher und Wanderkarte im Jura herumzuklettern.

Bei einem fast fünfzigjährigen Buch überrascht es nicht, dass einiges, was den Italienern an der Schweiz fremd vorkommt (und auch von dem Italien, nach dem sie sich sehnen), uns heute klischiert vorkommt. Etwa, wenn die Schweizer Lehrerinnen, im Gegensatz zur modebewussten, nach Borotalco duftenden Italienerin, nicht wussten, wie man sich anzieht und zurechtmacht, aber dann ihre Schulzimmer schöner schmückten, als diese es sich ausmalen konnte. Aber das ist nicht entscheidend. Anna Felder buchstabiert uns, dass es ein Zuhause nicht gibt, wenn man schon da ist. «An zu Hause denkt nur, wer weit weg ist.» Dann, so die Autorin, reden auch vertraute Dinge nicht von selbst, nicht mal der «Lichtschalter unter dem Regenmantel», wenn man heimkommt. Einen solchen braucht man – tra dove piove e non piove, so der Originaltitel: zwischen dort, wo es regnet – in Aarau zum Beispiel –, und dort, wo es nicht regnet (Italien). Aber man braucht den Mantel auch, weil einem bei der Lektüre schlicht die Tränen kommen ob des Schicksals all dieser unwillkommenen Leute, die man heute vorgeblich so mag und denen dank der Kunst Anna Felders schon früh das verliehen wurde, was ihnen, manchmal bis heute, fehlt: die Sprache.


Anna Felder: Quasi Heimweh. Aus dem Italienischen von Federico Hindermann. Zürich: Limmat, 2019 [1970].

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