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Sabine Gisin: «Teneber Vid»

Sabine Gisin: «Teneber Vid»

Die Entwicklung eines «Mädchens» zu einer sexpositiven Frau.

Die Kinderperspektive hat der Schweizer Literatur zuletzt einige beachtliche Titel beschert. Romane wie Julia Webers «Immer ist alles schön» (2017), Vincenzo Todiscos «Das Eidechsenkind» (2018) oder Isabelle Ryfs «Konrad, Felix und ich» (2017) nutzen den kindlichen Verfremdungseffekt, um scheinbar altbekannte Geschichten neu zu erzählen. In diese Reihe schreibt sich nun auch Sabine Gisins Debüt ein. Die Erzählung der Basler Autorin und Übersetzerin trägt den rätselhaften Titel «Teneber Vid». Im Mittelpunkt steht ein namenloses «Mädchen» auf seinem Weg von den «Bachbetten» der Kindheit hinaus in die unwirtliche, gefährliche und zugleich faszinierende Welt.

Prototypisch für diese Ambivalenz steht die Eröffnungsszene, in der das arglose «Mädchen» auf seinem Weg in die «Stadt» von einem älteren «Mann» auf dem Raststättenklo zur manuellen Befriedigung aufgefordert wird, diesen Übergriff jedoch nur mit einem erstaunten «Es bewegt sich, es erwacht» kommentiert. Stilistisch entspricht dem eine gelungene Engführung von märchenhafter Wahrnehmung und nüchternem Protokoll, was die gesamte Erzählung prägt. Als Leserin und Leser steht man zunächst ratlos vor dieser Verwirrung moralischer Muster. Doch dieser Effekt ist kalkuliert – wie das «Mädchen» muss auch dessen Publikum die Welt dieses Kurzromans erst erkunden. Im Zuge dieser Erkundung stellt sich dann heraus, dass die Hauptfigur offenbar deutlich älter ist als zunächst vermutet. Ohne auf die üblichen, meist humorvoll abgefederten Muster des Coming-of-Age-Romans zu verfallen, erzählt Gisin nun die Entwicklung des «Mädchens» zu einer jungen, sexpositiven Frau.

Gezielt werden dabei Raum und Zeit im Ungefähren gelassen. Das Ergebnis ist eine Art Traumlogik, aus der sich wiederkehrende Momente herausbilden. Im Zentrum stehen ein namenloser «Junge» und ein zunächst bedrohlich wirkendes städtisches «Schloss», das sich aber als eher harmlose Einrichtung entpuppt. Von hier aus unternehmen die beiden immer neue Reisen und Streifzüge an den Strand, ins Nachtleben, in die Vorstädte, in Bars und Clubs und fremde Städte. Vor allem das Mädchen liebt, sucht und begehrt, ohne dass die Lesenden viel über ihr Inneres erfahren. Das erinnert streckenweise an die Kameraperspektive des «Nouveau Roman» und ist ebenso überzeugend wie eigensinnig komponiert.

Im Wirbel der Zeiten und Schauplätze wird dem «Mädchen» dann zunehmend klar, dass es den Erwartungen des «Jungen» an seine Sexualität und Identität nicht gerecht werden kann und will. Zwar versucht es noch, mit immer länger werdenden Listen («Ich muss verstehen./Muss verbergen./Muss täuschen/Muss bezwingen./Muss halten») zur fremdbestimmten Selbststeuerung zu kommen, doch am Ende die Trennung und Aufbruch: «Mit dem Schloss bin ich fertig. Ich brauche etwas zur Kräftigung. Ich muss raus aufs Meer und mein Schiff hat Kursschwierigkeiten.» Ein dichtes, mit wenigen Ausnahmen lustvoll streng komponiertes Debüt, das die Lektüre zur ästhetischen Erfahrung macht.


Sabine Gisin: Teneber Vid. Biel: verlag die brotsuppe, 2019.

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