Auf Thoreaus Spuren
Hansjörg Schertenleib: Palast der Stille.
Hansjörg Schertenleibs neueste Erzählung handelt von einem Rückzug. Der weitgereiste Zürcher Schriftsteller entschied sich vor einigen Jahren, eine kleine Hütte im US-Bundesstaat Maine zu kaufen. Wie Henry David Thoreau, Musterbild des literarischen Aussteigers, wollte sich auch Schertenleib dort ganz dem Schreiben widmen, auf sich selbst zurückgeworfen, ohne weltliche Ablenkung und Einmischung. Social Distancing sozusagen lange vor Corona. «Palast der Stille» ist das Ergebnis dieses Versuchs. Schertenleib wirft darin einen Blick zurück auf sein bisheriges Leben, während er gleichzeitig seine neuen Alltagsroutinen im verschneiten Küsten-Cottage aufs Genaueste festhält.
Das lässt die Nabelschau eines weltmüden Eremiten befürchten. Doch gibt es glücklicherweise genügend Irritationseffekte, die diesen Eindruck unterlaufen. Wie der hintersinnige Ton, in dem Schertenleib schildert, wie er bedeutungsschwanger über die Reifenspuren vor seiner Hütte sinniert, nur um dann – recht unpoetisch – auf der rutschigen Strasse «hinzuknallen». Oder seine Verteidigung des abgekapselten, ereignislosen Lebens – Langeweile empfinde schliesslich nur, wer langweilig ist –, die von seinen Freunden als Plattitüde bezeichnet wird: «völlig zu Recht», wie er nüchtern eingesteht.
Reminiszenzen des Ich-Erzählers an seine Kindheit und Jugend, an die ihn die Tage des Müssiggangs in Maine erinnern, werden ergänzt durch Passagen in der dritten Person, die Schertenleibs eigenen Schreibprozess und seine literarische Laufbahn thematisieren. Die dritte Person verschafft ihm genügend Abstand, um auch bei gelegentlichen Seitenhieben gegen den Schweizer Literaturbetrieb nie allzu überheblich oder selbstgerecht zu wirken. Zumal er sich ohnehin bewusst ist, dass er sich am Schreibtisch «die Welt zurechtbiegt, wie es ihm in den Kram passt, auch in dieser Hinsicht macht er sich nichts mehr vor».
«Palast der Stille» erzählt von jemandem, der sich mit der Welt abgefunden hat, sich übers Schreiben keine idealisierenden Illusionen mehr macht und trotzdem nicht die Finger davon lassen kann. Schertenleib jagt Geschichten nach, wo immer er sie findet, erforscht beispielsweise die Herkunft seiner gebraucht gekauften Möbel und stösst so auf ein von Opioid-Krise und Nahost-Kriegen gebeuteltes Amerika. Schliesslich ein erstaunlich ausgeprägter Weltbezug also für das Buch eines vermeintlichen Aussteigers. Dessen Flucht vor der Gesellschaft entpuppt sich dergestalt als falsche Fährte. Man hätte es ahnen können. Schon Thoreau, weiss Schertenleibs Frau, liess sich während seiner Zeit im Wald manchmal zu Hause von seiner Mutter verpflegen.
Hansjörg Schertenleib: Palast der Stille.
Zürich: Kampa-Verlag, 2020.