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Christoph Höhtker: «Alles sehen»

Christoph Höhtker:
«Alles sehen»

 

Die Tatsache, dass Christoph Höhtkers 2013 erschienenes Romandebüt «Die schreckliche Wirklichkeit des Lebens an meiner Seite» am Schweizer Literaturbetrieb im Grunde ungesehen vorbeigesegelt ist, stellt in der Rückschau eine Ungeheuerlichkeit dar. Einen der präzisesten, witzigsten und zugleich bösartigsten Texte über die Schweizer Expat-Communities hatte man da vor sich, einen drogenverseuchten Plot – der in der tollkühn gescheiterten Bestechung eines NZZ-Mitarbeiters gipfelte – und eine sinistre Topographie der Stadt Genf, in der Höhtker seit einigen Jahren lebt. Niemand hat’s gemerkt.

Das Lektüreversäumnis sollte man dringend nachholen und wenn man schon dabei ist, gleich mit «Alles sehen», der jüngst erschienenen Fortsetzung, fortfahren. Der Schauplatz wechselt: Frank Stremmer, die Trümmer von Karriere und Beziehung im Rücken, wendet den Blick heimwärts, nach Bielefeld. Bielefeld – das ist hier weniger eine Stadt als eine Anschauung: immerhin handelt es sich um das Epizentrum der Systemtheorie und so beginnt nun das sorgsame Erkunden der «städtische[n] Lebensgemeinschaft» als der «herrlichste[n] Gemeinschaft, die alle anderen in sich schliesst». Ob der hier zitierte Niklas Luhmann beim Entwurf der Gesellschaft als «umfassendem Sozialsystem» tatsächlich Bielefeld vor Augen hatte, wäre zu diskutieren. Höhtker indes lässt die Theorie am Ort ihres Entstehens wirken – und erzählt dabei die wunderbare Geschichte eines einzigen Tages in einem dahinsiechenden Biotop.

Vordergründig ist es die Geschichte eines Abendessens, das der noch in Genf weilende Stremmer per Telefon zwischen der verkrachten Existenz Michi Brandt und der Soziologiestudentin Ania arrangiert. Mit der demiurgischen Verknüpfung zweier einander wildfremder Personen auf einem Kaufhausparkdeck beginnt eine atemberaubende Reise durch den Organismus der Stadt und die mit ihm verwachsenen Lebensentwürfe. Das von Altrevolutionären betriebene Transportunternehmen, der unverständig studierende Türsteher, der velophile und bindungsunfähige Möbeldesigner, das fehlplatzierte Feinschmeckerlokal mit seinem in Hass noch vereinten Betreiberpaar, der frisch zum Salafismus bekehrte Vollzeittrinker – marode Teilsysteme sind es, die sich erst dann sinnhaft in einer Erzählung unterbringen lassen, wenn man einmal an dieser Stadt irre geworden ist. Kaputt wie Michi Brandt, der Verfasser des unveröffentlichten Romanfragments «Ich kann nicht mehr»; psychotisch wie Prof. Jobst-Michael Höhtker, untergebracht in einem Zürcher Sanatorium und legendärer Begründer der «Totalen Soziologie», der schlichtweg alles interessant wird, bis hin zu den halb abgeknibbelten Aufklebern auf Stromverteilerkästen.

«Alles sehen» hat diese Schule des Wahnsinns erfolgreich durchlaufen. Mit dem Eifer empirischer Kulturforschung durchforstet der Roman die Mülleimer seines Personals nach den weggeworfenen Resten abgerissener Kommunikationsversuche, erstellt wunderbare Statistiken des Banalen und schwingt sich auf dieser Datenbasis auch zu sozialhistorischen Thesen über das Verhältnis von Taxikunden, Stadtteilentwicklung und Suizidalität auf. Lässt man sich auf dieses Experiment ein, so entfaltet die Ansammlung mehr oder weitaus weniger liebenswerter Chaoten schon bald einen literarischen Furor, der am Ende auch den Impresario Frank Stremmer wieder in seine eigene Inszenierung hineinziehen wird. Ein wilder Text, ein kluger Text. Und hoffentlich bald Pflichtlektüre an allen Kantonsschulen.

Christoph Höhtker: Alles sehen. Mainz: Ventil, 2015.

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