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Corinna T. Sievers:  «Vor der Flut»

Corinna T. Sievers:
«Vor der Flut»

Wer in Corinna T. Sievers’ neustem Roman nach Blümchensex sucht, der sucht vergebens.

Ein Eisberg hält Kurs auf das Warfthaus von Judith und Hovard, einem Ehepaar, das sich auf einer norddeutschen Insel niedergelassen hat. Hovard ist ein pensionierter Psychiater mit hellblauen Augen, die sein einziger Reiz wären, «hinge nicht das Unterlid, legte es nicht ein Geflecht hellroter Gefässe bloss» – eine Schattenfigur. Ganz anders Judith, die schillernde Ich-Erzählerin in «Vor der Flut»: Zahnärztin, langhaarig, blond, mit rotem Lippenstift. Ein Glück, ist sie trotz ihrer einundfünfzig Jahren mit einer «Pussy … beschenkt, fleischiger Kelch», zu deren «Bestäubung an Nektar und Pollen» nur «ein kräftiger Rüssel» gelangt.

Wer in Corinna T. Sievers’ neustem Roman nach Blümchensex sucht, der sucht vergebens. Judith ist immer auf der Lauer, einen ihrer Patienten zu verführen, die Beschreibungen ihrer zahlreichen sexuellen Rencontres sparen nichts aus. Pornografie zwischen zwei Buchdeckeln? Ein erstes Urteil, das sich aber nicht halten lässt. Zu explizit sind die Szenen, um erotisch zu sein. Zu beklem-mend, wie nahe am Abgrund sich die Figuren bewegen. Denn das Arrangement der Nymphomanin und ihres in sexueller Abstinenz lebenden Mannes ist fragil: Judith schläft, mit wem sie will (nur nicht mit Hovard), aber ihre Psyche gehört ihrem Mann, der sie ana-lysiert und therapiert, so viel er will. Ein vergiftetes Abkommen: Hovards Zurückweisung resultiert in Judiths Sexsucht, diese wiede-rum in Hovards Eifersucht und Bevormundung. Der Eisberg, der vor der Haustür immer näherrückt, nimmt das Unglück vorweg: «Ich stehe hinter ihm, sein Kopf verdeckt den Sockel des Eisbergs, nur die Spitze ragt darüber hinaus, und es sieht aus, als treibe er genau auf Hovard zu. Er sagt: Ich versteh’s nicht, er kommt näher, obwohl der Wind eingeschlafen ist. Streckt den Arm nach mir aus und sagt: Komm. Und weil ich ihm hörig bin auf hirnrissige Weise, nehme ich seine Hand und trete vor, statt umzukehren und fortzulaufen.»

Andere obszön-schamlose Stellen in diesem Roman geben sich geradezu herausfordernd der Lächerlichkeit preis: «W. nimmt meine Füsse, hebt sie in die Luft, richtet den Blick in mich. Verharrt in Betrachtung, hat irgendwoher sein Glas mit Champagner. Leert es mir über die Muschi und in sie, ich bin nass, das Bett ist nass, W. setzt an, meine Möse auszuschlürfen.» Doch immer gerade dann, wenn es der Leserin am schwersten fällt, diesen Roman ernst zu nehmen, überrascht er sie: Das liegt nicht am «Tabubruch», Figuren sexuell Anrüchiges so direkt aussprechen zu lassen, sondern an der Vielschichtigkeit der Motive und der Spannung, die sich im Roman aufbaut. Immer wieder direkt von der Ich-Erzählerin angesprochen, wird die Leserin unfreiwillig in die Rolle einer Gafferin gedrängt: ins Schlafzimmer (oder hier: ins Patientenzimmer), aber auch in die intime Brutalität einer zwischenmenschlichen Beziehung. Das löst oftmals Unbehagen, ja Schamgefühl aus – eines, das der Ich-Erzählerin zu fehlen scheint.

Genial oder daneben: der Grat ist schmal, den Corinna T. Sievers in ihrem Werk zu gehen wagt – das Ergebnis zu lesen aber äusserst lohnenswert.


Corinna T. Sievers: Vor der Flut. Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlagsanstalt, 2019.

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