Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Die Langsamkeit der Dämmerung

Je näher wir dem Dorf ihrer Kindheit kamen, desto mehr hellte sich Almas Miene auf. «Ich fühle mich so lebendig, seit ich mit dir zusammen bin», sagte sie mit dem halben ­Lächeln, das mir so vertraut war. Bevor ich Zeit hatte, sie zu fragen, was sie damit sagen wolle, bogen wir in einen Sandweg ein. […]

Je näher wir dem Dorf ihrer Kindheit kamen, desto mehr hellte sich Almas Miene auf. «Ich fühle mich so lebendig, seit ich mit dir zusammen bin», sagte sie mit dem halben ­Lächeln, das mir so vertraut war. Bevor ich Zeit hatte, sie zu fragen, was sie damit sagen wolle, bogen wir in einen Sandweg ein. Wir wirbelten eine kleine Staubfahne auf. Ich folgte dem hellgelben Band, das ein paar ­Meter vor mir flatterte, und fühlte mich seltsam beruhigt, als gebe mir die Tatsache, mit Alma zusammen zu sein, wieder Vertrauen in den Augenblick. An diesem Nachmittag, auf diesem ­kleinen Weg war die Welt im Lot, atmete regelmässig und ruhig. Ich sah Almas Rücken, ihre langen nackten Beine, die sich auf und ab bewegten und auf die Pedale drückten, und das erfüllte mich mit einem Frieden, der mich selbst erstaunte, weil ich ihn nicht gesucht, nicht erhofft hatte, ich wusste nicht einmal, dass es so ein Gefühl geben konnte.

Der Weg führte leicht bergab durch die Weinberge hindurch. Die Landschaft um uns wurde sanfter. Das Glänzen des Sees wurde von den Ästen der Bäume gedämpft, der Weg wurde gewundener, manchmal verlor er sich in einer Senke der Landschaft. Hier und da stand ein Häuschen am Saum ­eines Weinguts. Die Strassen, die Autos, die neuen Wohnsiedlungen schien es nie ­gegeben zu haben.

Ich erkannte das Gehöft am Ende einer Nussbaumallee schon von weitem. Wir kamen in den Hof, der sauberer war als in meiner Erinnerung, sicherlich, weil im Stall gegenüber dem Wohnhaus keine Tiere mehr waren.

Alma wirkte gar nicht verlegen, sie bewegte sich im Halbschatten des Hauses, als käme sie immer noch jeden Tag zur Vesper hierher. Sie stiess die Küchentür auf und rief Valentine. Ich folgte ihr, unbehaglich und glücklich zugleich. Ich erkannte die vier Schrankflächen, auf die jemand dieselbe Landschaft gemalt hatte, einmal im Schnee, einmal im Herbststurm, unter der Frühlings- und der Sommersonne.

«Sie ist wohl schon etwas taub, deshalb hört sie uns nicht.»

Etwas verängstigt folgte ich ihr weiter. Im Esszimmer brannte die Deckenlampe und ­beleuchtete den Tisch, auf dem ein Band aus weisser Spitze an einem Kissen festgesteckt war.

Alma winkte mir von der anderen Tür, die in einen Ziergarten führte. Ein kleiner runder Tisch stand im Schatten einer Schirmpinie. Das Haus hinter uns war blassrosa gestrichen, wie eingehüllt in einen ewigen Strahl der untergehenden Sonne.

Ein grosser Krug Sirup, Gläser und Kekse warteten auf uns. Valentine sass in einem alten Gartenstuhl, sie sah uns kommen und stand auf, um uns zu begrüssen.

«Da sind ja die jungen Damen. Wie schön, euch zu sehen.»

Es war so beruhigend, unter ihrem Blick wieder jung zu werden. Ich fand mich zurück­versetzt in die Zeit, als wir noch das ganze Leben vor uns hatten. Als unser Dasein noch nicht festgelegt war. Ich wünschte mir, es möge so bleiben, nur wir beide im Zug zwischen Thurso
und Edinburgh, der durch die Landschaft glitt, ohne sie zu verletzen.

Valentine nahm uns bei der Hand, wir bildeten einen Kreis um den kleinen runden Tisch. Sie schaute uns lächelnd an. Ihre geröteten, tränenden Augen erinnerten mich an die Augen mancher Hunde mit schweren Lidern.

«Esst nur, esst, meine Lieben. Ich bin so glücklich, euch wiederzusehen. Es ist wie vor ­dreissig Jahren, als ihr zur Vesper zu mir gekommen seid. Jetzt ist der Stall leer und es ist kein Stroh mehr in der Scheune, aber euch hier zu haben macht mich so glücklich, das könnt ihr euch nicht vorstellen. Das ist verrückt.»

Dass Valentine, ganz zusammengekauert in ihrem Sessel, die uns mit ihren winzigen Händen eines alten Kindes Sirup einschenkte, etwas «verrückt» fand, kam mir unglaublich komisch vor und liess mir zugleich Tränen in die Augen steigen.

Irgendwo weit weg hörten wir den Zug durch die Ebene fahren; der Zug, die Reisen, das alles schien hinter uns zu liegen, wie in einem anderen Leben. Von da, wo wir sassen, sahen wir einen Weg, der an den geschwefelten Weinbergen entlangführte, und den Baum, unter dem wir vor langer Zeit gespielt hatten. Die Schaukel hing immer noch an einem Eichenast, jetzt waren wir zu gross zum Schaukeln, aber das war auch nicht mehr nötig, denn wir hatten die Erinnerung und das genügte.

Ich erinnere mich nicht mehr, wie lange wir an dem kleinen grünen Tisch sitzengeblieben sind. Valentine war alle früheren Nachbarn von Alma durchgegangen, die Geburten, die Tode, die Hochzeiten und die Trennungen.

Valentine hatte sich immer um das Haus, ihre Kinder, ihren Mann gekümmert. Hatte den ­Besuchern zu essen gemacht, die sich in der grossen Küche voller Schatten an den Tisch setzten. Was blieb von diesem ganzen Leben, von diesem Hin und Her in dem grossen, still gewordenen Haus? Würde Alma mir zustimmen, dass sich hier noch eine andere Art von Stille eingenistet hatte?

Dann gingen wir durch den Garten und Valentine stellte uns jeden einzelnen Baum vor. ­Jeder hatte einen Namen und war der pflanzliche Bruder von einem ihrer Kinder.

«Und als Yves krank war, hat sein Baum die Blätter verloren. Ich schwöre es euch. Glücklicher­weise sind beide gesund geworden.»

Sie lief zwischen uns, eine zierliche Gestalt, langsam, aber entschlossen, und wenn sie sprach, vergass ich ihr Alter. Die Worte in ihrem Mund waren nicht gealtert.

Wir blieben bis zu dem Moment, da die Erde die am Tage gespeicherte Wärme zurückgibt. Aus den Weizenfeldern stieg ein warmer, süsslicher Duft auf. Alma wirkte abwesend. Valentine erzählte von einem Schwimmbecken, in das wir gehen könnten, wenn uns der Sinn danach stehe.

«Aber wir haben gar keinen Badeanzug dabei.»

Ohnehin war es Zeit aufzubrechen, wenn wir vor der Dunkelheit zurück sein wollten. Auf der Schwelle sagte Valentine ganz fröhlich:

«Na gut, wenn ihr nächsten Sommer wiederkommt, gebe ich euch den Schlüssel zum Schwimmbecken und ihr vergesst eure Badeanzüge nicht, hört ihr?»

Als könnte ich mir nach diesem Besuch noch eine Zukunft vorstellen.

Auf dem Rückweg traten wir schweigend in die Pedale. Am Stadtrand stellte Alma einen Fuss auf die Erde, blieb lange stehen und betrachtete die Farben des Sonnenuntergangs.

«Es war gut, wiederzukommen. Ich weiss nicht, warum ich mich jetzt wirklicher fühle. Vielleicht sind wir nicht dieselbe Person von einem Land zum anderen, von einem Kontinent zum anderen.»

Ich glaubte, sie lächelte. Es musste schon später sein, als ich vermutet hatte, denn in der ­zunehmenden Dunkelheit wurde es schon schwierig, die Weizenfelder von den Heuwiesen zu unterscheiden, ebenso, wie es schwierig war, zwischen einem Lächeln und einem Schluchzen zu unterscheiden. Die Landschaft um mich herum roch nach Stroh und Hafer, wie der Körper eines bebenden Pferdes. Ich war eine Fliege auf diesem riesigen Körper, der durch das Universum ­galoppierte; ich war da, ohne für einen Moment an meinem guten Recht zu zweifeln, auf diesem warmen, unter die Sterne katapultierten Tier herumzuspazieren.

«Alma, ich wollte dich etwas fragen, ich hätte dich heute früh fragen sollen, aber ich war so froh, dich zu sehen, dass ich den Moment nicht verderben wollte. Weisst du, ich habe nie ­verstanden, warum du dir das Leben genommen hast. Sagst du mir, warum du das getan hast?»

Ich wandte den Kopf, um Almas Gesicht zu sehen, aber es war niemand mehr da, nur die Nacht, die angebrochen war und ihren Rock voller Sterne schüttelte.

 

 

übersetzt von Claudia Steinitz.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!