Torsten Haeffner:
«Die Wellenflüsterer»
Der 15-jährige Ich-Erzähler Nils ist Melancholiker. Das Glück ist für ihn wie eine Katze – es kommt und geht, wann es will. Die Traurigkeit aber ist wie ein Hund – sie ist immer da und wird zur ständigen Begleiterin. Wir sind in München, ungefähr im Jahr 1972. Nils ist verliebt. Manuela ist 34 Jahre alt, hat dunkle, leicht gelockte Haare und einen üppigen Busen. So stellt er sie sich vor. Aber er kennt sie nicht. Manuela ist Radiofrau bei der «Stimme der DDR», und seit Nils sie vor zwei Jahren zufällig über sein Mittelwellenradio empfangen hat, ist er hin und weg. Sein Vater sieht die DDR so: «Jeder hat Arbeit und eine Wohnung, aber der Lebensstandard ist niedriger als bei uns.»
Ein Röhrenradio verbessert nun den Empfang und macht Nils definitiv zum Radiowellenfetischisten. Dies gefährdet die Promotion im Gymnasium. Wenigstens ein Hausaufsatz gelingt. Nils widmet sich darin der Frage, warum Gefängnisstäbe senkrecht verlaufen. Dazu besucht er auch eine Psychiatrische Klinik, um herauszufinden, wie die Stäbe dort angelegt sind. Der Pförtner Faltermayer, ein älterer Herr, führt Nils durch die Anstalt. Haeffner gelingt es, sehr starke Bilder von psychisch Kranken zu evozieren, die an Glausers «Matto regiert» erinnern. Auch die liebenswürdige Schilderung des erdig-bedächtigen Faltermayers gehört zu den Stärken des Romans. Nun aber, noch vor der Mitte, kippt die Geschichte unvermutet ins Esoterische ab. Nils lernt die 18-jährige Britta kennen, deren Onkel in der DDR lebt. Während Nils und Britta sich höchst erfolgreich in der Telepathie üben, reist Faltermayer, der zum Motor der Handlung wird, in die DDR, mit dem Ziel, Brittas Onkel und Manuela aufzusuchen. Der Onkel soll, so der Plan, künftig mit Britta, Manuela mit Nils wellenflüstern, also via Telepathie verkehren – dagegen wäre selbst der Überwachungsstaat DDR machtlos.
Es kommt nicht dazu. Brittas Onkel, ein Regimekritiker, hat sich im Gefängnis aufgehängt, Manuela wird bei einem Fluchtversuch erschossen. Das Bild der DDR hat sich völlig gewandelt. Faltermayer meint: «Wenn du da drüben lebst, da gehst du kaputt. Ganz kaputt.» Nils fordert er dazu auf, sich verstärkt um Britta zu kümmern. So werden die beiden zum telepathisch-sympathischen Paar.
Haeffners Sprache ist präzis und bildhaft. Er skizziert die Hauptfigur Nils in seiner Mischung aus Melancholie, Naivität, Träumerei, telepathischen Fähigkeiten und Gutherzigkeit psychologisch geschickt, aber er hat sich im Alter vergriffen. Nils wirkt nicht wie 15, sondern wie 11. So weiss er nicht, in welcher Branche sein Vater arbeitet, und der muss ihm erklären, dass Deutschland aus zwei Staaten besteht und dass man den eisernen Vorhang nicht ziehen kann.
Der Mix aus Jugendliebe, Telepathie, Krimi und DDR-Kritik erscheint gewagt. Was als Roman für Erwachsene konzipiert worden ist, entpuppt sich meines Erachtens als durchaus gelungenes Jugendbuch.
Torsten Haeffner: Die Wellenflüsterer. Bern: Stämpfli, 2011.